Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
dort sei. Sie hatte bisher nicht die Zeit gefunden und auch nicht die rechte Lust aufgebracht, seine Einladung anzunehmen. Doch diese Veränderung im Wesen ihres Vaters beunruhigte sie. Nach seinem Plan führte ein lange nicht mehr benutzter Forstweg bis auf zwei Meilen an seine Hütte heran. Es waren nur noch rund zehn Meilen bis dorthin gewesen, als es passierte.
Jetzt erinnerte sie sich wieder an das Geräusch, den dumpfen Schlag und das grässliche Gefühl der Hilflosigkeit, während der Wagen von der Straße abkam und den Abhang hinunterstürzte. Sie blickte ihren Körper hinab und versuchte, Arme und Beine zu bewegen. Trotz der heftigen Schmerzen, die die eine oder andere Bewegung verursachte, schien nichts gebrochen zu sein. Ein paar kleine Schnittwunden, etliche Prellungen und ein verstauchter Knöchel – als Krankenschwester hatte sie einen Blick für so etwas. Die niedrige Geschwindigkeit, bedingt durch die Steigung der Straße und den Abfall der Motorleistung, sowie der Gurt hatten wohl das Schlimmste verhindert.
Noch immer dröhnte Dampf aus dem zerstörten Motorraum, und es roch nach Benzin. Sie musste hier raus. Sie hatte im Fernsehen gesehen, dass Autos nach einem Unfall oft explodierten!
Die Tür leistete ihrem Fluchtdrang Widerstand, gab aber nach, als sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen warf. Sie fiel in den Schnee und rutschte ein Stück den Hang hinunter. Es war lockerer Neuschnee von strahlendem Weiß, ganz anders als der schmutzig braune Schneematsch, der Bürgersteige in Rutschbahnen verwandelte. Sie richtete sich mühsam auf und versuchte, auf die Beine zu kommen. Der Schmerz, mit dem ihr linker Knöchel diesen Versuch quittierte, überzeugte sie jedoch rasch davon, dass es im Moment besser war, sitzen zu bleiben.
Für sie war diese Wildnis immer ein Gräuel gewesen – und nun saß sie mittendrin. Doch nicht nur das, es war auch noch empfindlich kalt. Sie hatte keinerlei besondere Vorbereitungen getroffen, als sie sich spontan zu diesem Besuch entschlossen hatte. Die wohlige Wärme des Wagens und die Sicherheit, die er vermittelte, hatten sie nicht eine Sekunde darüber nachdenken lassen, dass sie die ihr vertraute Umgebung der Stadt weit hinter sich gelassen hatte. Hier gab es keine Krankenwagen, keine Telefone und keine Hubschrauber. Es gab noch nicht einmal jemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Und der Wagen, allzeit bereites Fortbewegungsmittel und schützende Hülle zugleich, lag zerschmettert ein paar Meter über ihr. Es gab hier nur sie, dieses Wrack, den Wald, den Schnee, die Kälte und ...
Ein lang gezogenes Heulen unterbrach die Stille – ein klarer, traurig klingender Ton, den der Wind den Hang hinuntertrug.
Sie stutzte. Dieses Geräusch kam ihr bekannt vor. Sie hatte es schon öfters gehört, zuletzt vor ganz kurzer Zeit. Angestrengt lauschte sie in die Stille hinein.
Da war es wieder! Diesmal aus einer anderen Richtung, in einer leichten Variation und auch wesentlich näher, wie es schien. Noch ehe der Ton verklungen war, fiel es ihr siedend heiß ein: Es war einer dieser späten Horrorfilme gewesen, in den sie aus Versehen hineingeraten war. Wie war doch gleich der Titel gewesen? Ach ja: „Von Wölfen gehetzt.“
WÖLFE! Ja, es war das Heulen von Wölfen!
Panik stieg in ihr auf. Ein hastiger Blick in das Dämmerlicht des Waldes, der überstürzte Versuch, sich aufzurichten, und das verzweifelte Bemühen, wieder in den Wagen zu kommen, während ihr all jenes durch den Kopf schoss, was sie über Wölfe jemals gelesen, gehört oder im Fernsehen gesehen hatte.
Erst, als es ihr endlich gelungen war, die verzogene Tür wieder halbwegs zu schließen, fiel ihr auf, dass sie den Hang hinaufgelaufen und in das Auto gestiegen war, ohne sich irgendwelcher Schmerzen bewusst gewesen zu sein. Auch jetzt tat ihr Knöchel nicht weh, dafür bemerkte sie aber den Schweiß, der ihr Kältegefühl noch verstärkte.
WÖLFE! Sie suchte nach irgendeiner Waffe. Der kleine Feuerlöscher, der sich aus der Halterung gerissen hatte, fiel ihr ins Auge, und sie griff danach. Sie überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte. Aber weit und breit war kein Mensch zu sehen oder zu hören. Der Zustand der Straße hatte auch keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Reifenspuren die ersten seit langer Zeit waren und es wohl auch lange bleiben würden. Die einzigen Ohren, die sie hören würden, waren wohl die der Bestien.
Wieder erklang ein Heulen, noch näher diesmal und kürzer. Sie verstärkte
Weitere Kostenlose Bücher