Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
ihren Griff um den Metallzylinder des Feuerlöschers und blickte nervös um sich. Der Wagen bot keinen Schutz mehr, jetzt, wo die Windschutzscheibe zerborsten war. Doch er war allemal besser, als dort draußen im Schnee zu sitzen oder auf einen Baum zu klettern. Letzteres würde sie sowieso nicht schaffen, und hier hatte sie wenigstens die Illusion der Geborgenheit.
Das Heulen hatte aufgehört. Sie wartete.
In der ersten Stunde lockerte sich ihr Griff um den Löscher mehr und mehr, bis sie ihn schließlich auf den Beifahrersitz legte, um ihre steif gefrorenen Finger zu wärmen. In der zweiten Stunde hatte sie die länger werdenden Schatten der Stämme für ein paar kurze Momente aus den Augen gelassen, um sich in die Decke zu hüllen, die auf der hinteren Sitzbank gelegen hatte. Frierend und von Angst gepeinigt hatte sie das Licht schwinden sehen, und genauso hatte sie auch den größten Teil der Nacht verbracht. Irgendwann musste sie einmal kurz eingeschlafen sein, denn ein Rudel Wölfe hetzte sie in einem nicht enden wollenden Albtraum durch tiefen Schnee, bis sie schließlich hinfiel und sie über ihr waren. Gierige, rote Augen und scharfe, weiße Zähne hatten sich ihr von allen Seiten knurrend genähert, und ein würgender Biss in ihre Kehle hatte ihre Schreie erstickt. Sie war schweißgebadet erwacht und hatte voller Panik nach dem Feuerlöscher gesucht ...
Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Wald fluteten, stand ihr Entschluss fest. Sie musste versuchen, sich zu dem Blockhaus ihres Vaters durchzuschlagen. Alles andere käme einem Tod durch Verhungern oder Erfrieren gleich, denn niemand würde sie so schnell vermissen, und niemand würde sie gerade hier suchen. Auch ihr Vater nicht. Er wusste ja nicht einmal, dass sie ihn besuchen wollte.
Natürlich könnte sie sich auf die Straße schleppen und dort warten. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand innerhalb einer Woche oder gar eines Monats dort entlang fahren würde, erschien ihr nicht sehr hoch. Andererseits waren es zwanzig Meilen bis zur Abzweigung, und auch die größte Forststraße schien lange Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein. Die letzten Reifenspuren waren bereits kurz hinter der Abfahrt nach links abgebogen und danach hatten nur noch ein paar Tiere ihre Abdrücke im Schnee hinterlassen.
Die Blockhütte erschien ihr als die einzige Chance. Entlang der Straße waren es zehn Meilen, dazu noch die zwei bis zur Hütte. Sie studierte die Karte ihres Vaters und schätzte die Entfernung auf dem direkten Weg. Die Kurve, die ihr zum Verhängnis geworden war, war eingezeichnet. Wenngleich sein Hang zu Details ihr oft auf den Wecker gefallen war – in diesem Fall war sie ihm dafür ausgesprochen dankbar. Während der Forstweg in mehreren Serpentinen nur langsam an Höhe gewann, reduzierte sich die Entfernung auf dem direkten Weg den Hang hoch auf vielleicht noch vier oder fünf Meilen. Das waren mit der U-Bahn oder dem Auto ein paar Minuten – aber mit einem verstauchten Knöchel in einem verschneiten, wolfsverseuchten Wald?
Sie versuchte die Panik zu unterdrücken, die ihr bei dem Gedanken an eine Begegnung mit den Wölfen hochstieg. Sie hatte in den vergangenen Stunden alles rekapituliert, was sie über Wölfe wusste – hauptsächlich aus Spielfilmen, Romanen und Märchen – oder was sie jemals über sie gehört hatte. Danach würden sie keine Probleme haben, sie aufzuspüren. Vielleicht wussten sie ja auch schon, dass sie hier war; vielleicht war ihre unfreiwillige Anwesenheit hier auch der Grund für das gestrige Heulen. Sie würden kommen, und sie würden sie finden – früher oder später. Und sie würde gegen sie keine Chance haben.
Sie musste es trotzdem versuchen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und öffnete vorsichtig die Tür. Nichts rührte sich, weder war ein Heulen zu hören, noch eine Bewegung zwischen den Stämmen zu entdecken. Ständig um sich blickend, machte sie sich an die Arbeit.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis der – zum Glück nicht verklemmte – Kofferraumdeckel geöffnet, ihre kleine Reisetasche herausgenommen und sie wieder ins Wageninnere zurückgekehrt war. Ihr Knöchel und ihre Furcht forderten ihren Tribut. Außerdem war der Werkzeugkasten, den sie im Kofferraum entdeckt und ebenfalls mitgenommen hatte, ausgesprochen schwer.
Weitere zwanzig Minuten vergingen, bis sie alles angezogen hatte, was in der Reisetasche an Ersatzkleidung war, und den Rest samt der
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