Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
Ritual oder ein Einschüchterungsmanöver, das den Widerstand brechen sollte? Warum fielen sie nicht über sie her, wie sie es in Filmen gesehen hatte?
Der hagere Wolf nährte sich schnüffelnd und in sprungbereiter Haltung. Kaum dass er wieder in Reichweite war, holte sie erneut zum Schlag aus. Wieder wich der Wolf geschickt aus. Diesmal aber traf der Radschlüssel so heftig auf einen Stein, dass er ihr aus der Hand gerissen und ein gutes Stück weggeschleudert wurde. Sie sah ihm entsetzt nach.
Sofort waren einige der Wölfe zur Stelle, um ihn ausgiebig zu beriechen. Auch der Wolf direkt vor ihr kam wieder näher, misstrauisch jede Bewegung ihrer Hand verfolgend. Sie schrie und trat nach ihm, und er wich zurück. Das wiederholte sich etliche Male, bis sie einfach zu erschöpft war, um noch größere Gegenwehr zu leisten. Einige der Wölfe, die vorher den Schlüssel untersucht hatten, waren ebenfalls näher gekommen, während andere von den Felsen stiegen. Keuchend sah sie die drei Wölfe an, die jetzt so nahe standen, dass sie begannen, an ihren Schuhen zu schnüffeln. Sie schloss die Augen und wartete auf den ersten Biss.
Als sie sie zwei endlos lange Minuten später wieder öffnete, konnte sie den letzten der Wölfe gerade noch hinter einem Felsblock verschwinden sehen.
Sie saß da und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Von irgendwoher drängte sich ihr der Gedanke an einen Schutzengel, der sie bereits den Unfall überleben ließ, in ihr Bewusstsein. Oder war es ein Wunder, eine Vorsehung des Schicksals? Warum lebte sie eigentlich noch??!
Vorsichtig um sich blickend, kroch sie auf den Radschlüssel zu. Das Gefühl des kalten Metalls in ihrer Hand gab ihr wieder ein leichtes Gefühl der Sicherheit. Sie schienen vor dem Ding ja Respekt zu haben. Doch sie musste unbedingt aus dieser Falle raus, bevor die Wölfe wiederkamen.
Sie schlich sich langsam zum Ausgang der Schlucht. Kein Wolf zu sehen. Sie blickte sich noch einmal vorsichtig um, dann rannte sie ungeachtet der Schmerzen über die offene Fläche, die die Felsen von einem dichten Laubwald trennte. Mit dem Rücken an einen Stamm lehnend, hielt sie nach Verfolgern Ausschau. Doch es gab keine. Als sie dann auch noch einen frisch aussehenden Baumstumpf entdeckte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Kein Zweifel, hier war erst vor Kurzem ein Mensch am Werk gewesen, wahrscheinlich ihr Vater. Sie kramte die Karte heraus und suchte darauf den Wald. Tatsächlich, er war eingezeichnet. Die Blockhütte musste direkt dahinter liegen.
Aber wusste er denn nicht, dass es hier von Wölfen nur so wimmelte? Warum hatte er sie nicht gewarnt, als er sie eingeladen hatte? Oder waren die Wölfe vielleicht erst vor Kurzem hier aufgetaucht?
Sie überlegte kurz, ob sie weiterlaufen sollte. Doch die Erschöpfung und die hereinbrechende Dunkelheit hielten sie davon ab. Die Gefahr, sich jetzt noch zu verirren, war einfach zu groß. Zum Glück fand sie einen umgestürzten Baum, dessen Wurzeln zusammen mit der noch daran hängenden Erde eine Art Mulde formten, die nur nach einer Seite offen war. Noch eine Nacht auf einem Baum würde sie nicht überstehen, ganz zu schweigen davon, dass ihr die Kraft zum Klettern fehlte. Und so lutschte sie noch etwas Schnee gegen den nagenden Hunger, legte sich in die Mulde und fiel zum ersten Mal seit dem Unfall in einen tiefen Schlaf.
Das Geräusch schnell ein- und ausgeatmeter Luft ließ sie erwachen. Gegen den hellen Hintergrund des bereits angebrochenen Tages deutlich sichtbar reckte sich ihr etwas entgegen, was einer Hundenase ähnlich sah. Doch es war kein Hund, der da an ihr roch. Sie spürte den warmen Atem des Wolfes in ihrem Gesicht und wurde sich schlagartig bewusst, dass sie nicht mehr alleine war.
Reflexartig schnellte ihr Arm in die Höhe und ließ ihre Faust auf der Nase des Wolfes landen. Noch ehe dieser sich unter Schmerzenslauten zurückziehen konnte, hatte sie auch schon den bereitliegenden Radschlüssel ergriffen. Sich auf den Ellenbogen stützend, schlug sie damit nach dem zweiten Wolf, der ihr Knie berochen hatte und jetzt den Kopf hob. Diesmal traf sie. Der Wolf gab einen erstickten Laut von sich, sprang zur Seite und torkelte benommen zurück zu den andern, die nicht weit entfernt standen.
Es waren fünf. Doch zu ihrer Überraschung machten sie auch jetzt keinerlei Anstalten, sie anzugreifen. Irgendwie hatte sie wieder das Gefühl, lediglich neugierig und misstrauisch beobachtet zu werden. Irgendetwas stimmte
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