Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
Felsvorsprünge erhoben sich weit über den Boden, und die Vegetation wurde spärlicher. Die Wölfe blieben verschwunden, und auch ihr Heulen war nicht mehr zu hören.
Es konnte nicht mehr allzu weit sein. Ihre Kräfte ließen nach, doch die vermeintliche Nähe der Blockhütte gab ihr neuen Mut. Sie überlegte, ob sie rufen oder schreien sollte, um ihren Vater auf sich aufmerksam zu machen, der ja irgendwo in der Nähe sein konnte, vermied es aber dann in Hinblick auf die Wölfe.
Schließlich erreichte sie einen Einschnitt im Felsen, der nach zwei Seiten offen und zu den verbliebenen Seiten hin durch hohe Vorsprünge abgegrenzt war, die einen guten Ausblick auf die Umgebung boten. Es sah aus wie eine kleine Schlucht und war auch fast so unüberwindlich. Zum Glück verlief ihr Weg entlang der offenen Seiten. Sie hatte gerade die Mitte erreicht, als sie das unangenehme Gefühl befiel, beobachtet zu werden. Sie blieb stehen, wagte aber nicht, sich umzudrehen.
Ihr Ziel vor Augen, hatte sie die Wölfe in den letzten zwei Stunden erfolgreich verdrängt. Jetzt aber schlugen die Wogen der Angst wieder über ihr zusammen. Sie umklammerte die Metallstange und blickte sich um. Nichts – kein Wolf zu sehen. Und doch meinte sie fast spüren zu können, dass sie jemand beobachtete. Sollte etwa …
Sie blickte nach oben – direkt in die Augen eines großen Wolfes. Er stand auf dem Felsvorsprung und schaute sie mit leicht schief gelegtem Kopf an.
„Das war's dann wohl“, dachte sie, als sie sich der Situation bewusst wurde und die Panik etwas nachließ. Einige Sekunden lang starrten sie sich gegenseitig an, dann blickte der Wolf überraschend zur Seite. Ihre Erstarrung löste sich ein wenig, und sie hob den Radschlüssel an, um seinen Sprung damit irgendwie abzuwehren. Doch er sprang nicht. Stattdessen erschien ein weiterer Wolf neben ihm, der kurz auf sie hinunterschaute, bevor er sich dem ersten zuwandte. Auch von dem Felsvorsprung der anderen Seite blickten sie Augenpaare an, und drei weitere Wölfe tauchten auf dem Weg auf, den sie gekommen war.
„Jetzt fehlen nur noch welche auf …“ – bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, war ein hager aussehender Wolf hinter dem bizarr geformten Felsblock hervorgetreten, der den Ausgang der kleinen Schlucht stark verengte. Und dieser Wolf kam näher!
Sie suchte nach einem Ausweg, fand aber keinen. Alle Fluchtwege waren abgeschnitten, Schutz oder Zufluchtmöglichkeiten weit und breit nicht zu sehen. Alles in allem blieben ihr in jeder Richtung nur wenige Meter, bis sie entweder auf eine Felswand oder einen Wolf stoßen würde.
Einen Moment lang war sie bereit, der in ihr aufsteigenden Resignation nachzugeben. Doch dann gewann etwas die Oberhand, das sie aus Spielfilmen als den „Mut der Verzweiflung“ kannte. Der einsame Held völlig chancenlos gegen eine erdrückende Übermacht der Feinde. Sie stürzte auf den einzelnen Wolf zu, wobei sie aus Leibeskräften schrie und den Radschlüssel schwang. Hatte sie nun erwartet, dass die ganze Meute sich auf sie stürzen und sie zerfleischen würde, so geschah etwas sehr Merkwürdiges: Der Wolf, auf den sie einstürmte, schien ihr zunächst einen verdutzten, dann einen geradezu entsetzten Eindruck zu machen und wich in einem überhastet anmutenden Sprung ihrem Schlag mit dem Radschlüssel aus. Der Schwung des mächtigen Hiebes mit der langen Eisenstange brachte sie jedoch aus dem Gleichgewicht, sodass sie stolperte und fiel – fast auf den Wolf, der noch einmal heftige Anstrengungen unternahm, dem, was da auf ihn zustürzte, auszuweichen.
Als sie sich wieder aufrichtete, den Schraubenschlüssel schlagbereit erhoben, blickte sie in zwölf Augenpaare, die Verwunderung auszudrücken schienen – eines davon nicht einmal einen Meter entfernt. Ihr Schlag kam präzise und wuchtig, traf aber nicht, da der Wolf schnell einen Schritt zurück trat. Und ihre Rückhand machte lediglich eine der wenigen Pflanzen nieder, die hier noch wuchsen. Der Wolf war außer Reichweite.
Sie hielt inne. Einige der Wölfe waren näher gekommen, zwei hatten sogar den Felsvorsprung verlassen. Aber sie nährten sich seltsam zögernd, geradezu vorsichtig und misstrauisch – als ob sie nicht wüssten, was sie von ihr, die doch fraglos eine leichte Beute und sichere Mahlzeit darstellte, halten sollten. Sie war mehr als erstaunt. Perplex wäre das vielleicht richtige Wort. Ob es der Radschlüssel war, der sie in Schach hielt? Oder war das so etwas wie ein
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