Mit den Augen eines Kindes
Darmgrippe ins Haus stünde.
«Für wie blöd hält der mich eigentlich?», fragte Hanne.
Dass Sven plötzlich erkrankt war, durfte man zwar nicht völlig ausschließen. Bei Esther war es ja auch von einer Minute auf die andere gekommen, plötzliche starke Leibschmerzen und Übelkeit. Aber das hätte Olli bestimmt erzählt – wahrscheinlich mit den Dialogen aus Roter Oktober – dicke, brockige Kotze. Und Alex hatte am Telefon behauptet, Ella läge im Bett. Hanne hatte jedoch eine Frau sagen hören: «Das reicht jetzt, leg auf.»
Wer sollte das gesagt haben, wenn nicht Ella? Doch zu der passe das überhaupt nicht, meinte Hanne, wo sie sich am vergangenen Nachmittag noch so gut verstanden hatten. Welchen Grund sollte Ella denn heute gehabt haben, nicht mehr selbst mit ihr sprechen zu wollen und Alex in barschem Ton zum Abbruch des Gesprächs aufzufordern?
Das hatte Hanne herausfinden wollen. Deshalb war sie nach Feierabend von der Praxis aus runtergefahren. Um die Zeit war Alex ja in der Regel geschäftlich unterwegs, heute jedoch nicht. Hereingelassen hatte er sie nicht, sie an der Haustür abgefertigt. Ella schliefe, und er sei in Eile, müsse zu einem wichtigen Kunden, hatte er gesagt.
«Eben habe ich nochmal probiert, Ella zu erreichen», erzählte Hanne weiter. «Aber ich bekam wieder nur Alex an die Strippe, so viel zum wichtigen Kunden. Und als ich nicht lockerließ, wollte er mir weismachen, Ella sei mit dem Jungen wieder zu ihrer Schwester nach Frankfurt gefahren.»
Hanne tippte sich bezeichnend an die Stirn. «Gestern war sie froh, wieder hier zu sein. Und heute macht sie sich mit einem eingegipsten Arm, einer Darmgrippe und einem kranken Kind erneut auf den Weg nach Frankfurt? Wie soll das denn vonstatten gegangen sein in einer guten Stunde? Selber fahren kann sie noch nicht, er braucht ja auch sein Auto. Und wenn er sie zum Zug nach Köln gebracht hätte, muss er geflogen sein.»
«Vielleicht hat ihr Bruder sie abgeholt», sagte ich und erzählte ihr, was Jochen von Manfred Anschütz gehört hatte. Eine Geliebte, die von Ella wissen wollte, warum sie zurückgekommen sei.
«Arme Ella», sagte Hanne.
Arme Hanne. Sie machte sich Hoffnungen auf einen netten und garantiert störungsfreien Abend auf der Couch. Ein äußerst seltenes Vergnügen, das wir uns nur leisten konnten, wenn Olli bei Oma und Opa einquartiert worden war, weil Hanne am nächsten Morgen früher anfangen musste. Dann hatte sie keine Zeit für sein ausgedehntes Frühstück. Und die zeitliche Regelung, die sie vor Jahren mit ihrem Chef getroffen hatte, wurde längst nicht mehr immer so genau genommen.
Wir aßen den Eintopf, räumten die Küche auf. Dann ging Hanne ins Bad. «Ich spring mal schnell unter die Dusche.»
Ich schaltete den Fernseher ein, warf einen Blick in die Tagesschau und bekam nur die Hälfte mit. «Du riechst so frisch.»
Logisch, ich hatte ja auch lange geduscht. Im Bad rauschte Wasser. Und die Wetterkarte bedeckte sich mit den Wassertropfen auf Marens Gesicht. Ich kämpfte dagegen an, so gut es ging. Aber ich kämpfte auf verlorenem Posten, und das wusste ich auch.
Noch einmal zum Abschied und noch einmal und noch einmal, solange es Maren gefiel. Ich konnte protestieren, alle möglichen und unmöglichen Entschlüsse fassen, abschütteln konnte ich sie erst, wenn sie mich losließ. Es hatte nichts mit Schwäche zu tun, ließ sich nicht erklären. Es war eben so – wie ein Naturgesetz. An dem Abend war ich für Hanne ein miserabler Liebhaber. Ein paar Tage noch, dachte ich, als wir zu Bett gingen. Nur noch ein paar Tage, dann ist Maren weg. Dann mache ich alles wieder gut.
Mittwoch, 28. Mai
Der Tag begann – rein dienstlich gesehen – durchaus positiv. Der Fall von üblem Vandalismus vom Wochenende und mit ihm drei weitere waren praktisch aufgeklärt. Der zweite Täter leugnete zwar noch, aber der andere war voll geständig. Jochen hatte gute Arbeit geleistet und sprach den ganzen Tag keine drei Sätze mit mir. Ich erfuhr nicht einmal, ob er in Sachen Godberg noch etwas unternahm. Wo er doch gestern überlegt hatte, die Kollegen vom KK 21 bei Alex vorbeizuschicken.
Womit Andreas Nießen sich den Tag vertrieb, keine Ahnung. Ich bekam ihn nicht zu Gesicht, weil er sich nicht bei mir blicken ließ und ich das Telefon auf meinem Schreibtisch bewachte. Jedes Mal, wenn es klingelte, schielte ich zuerst auf das Display. Aber es war immer nur dienstlich.
Schon um halb fünf machte ich Feierabend, weil ich es nicht länger
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