Mit den Augen eines Kindes
aushielt. Eine halbe Stunde später betrat ich die Wohnung. Olli lag bäuchlings in seinem Zimmer auf dem Fußboden, vor sich ein Malbuch, das er mit einem schwarzen Filzstift bearbeitete. Er hatte sich mit Opa beraten und eine Lösung für sein Problem gefunden. Sein kleines Gesicht war in Skepsis und Nachdenklichkeit verzogen, als er kurz aufschaute. «Wenn ich dir was zeige, Papa, habe ich dir nichts gesagt, oder?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Das hat Opa auch gesagt. Guck mal.»
Er hielt mir das Malbuch hin. Über die vorgedruckten Figuren zum Ausmalen hatte er ein rundes Gesicht mit riesigen schwarzen Glupschaugen gezeichnet, dessen untere Hälfte mit Unmengen schwarzer Kringel bedeckt war, die offenbar einen Bart darstellen sollten. «So sieht der Rex aus, Papa. Kannst du den verhaften lassen?»
«Logisch», sagte ich. «Ich gebe ihn morgen in die Fahndung.»
«Du musst aber sagen, dass er ein ganz schlimmer
Verbrecher ist, Papa. Sie müssen sich leise anschleichen.
Und dann schießen sie ihn am besten sofort tot.» «Ich werde sie darauf hinweisen», sagte ich. Dass ich bei
der Sache gewesen wäre, will ich gar nicht behaupten. Olli strahlte mich grenzenlos erleichtert an. Ich bekam
einen feuchten Kuss auf die Wange gedrückt und zwei weiche Arme um den Nacken geschlungen. Beim Abendessen plapperte er munter von Omas Nymphensittich, Opas Eisenbahn und einem überaus spannenden Film von einem Geist, den böse Männer tot gemacht hatten. Olli hatte leider das Ende nicht gesehen, weil Oma gleich zu meckern anfing, als sie mit dem Käse fürs Abendessen nach Hause kam.
Hanne erzählte von ihren Plänen für den bevorstehenden Geburtstag meines Vaters. Sie wollte eine Diesellok schenken, eine Kirschtorte backen, vielleicht auch zwei oder drei Salate für den Abend machen, um meiner Mutter etwas Arbeit abzunehmen.
Um acht brachte ich Olli ins Bett. Zwei Stunden später folgte ich Hanne ins Schlafzimmer. Und kurz nach Mitternacht rüttelte sie mich an der Schulter.
Donnerstag, 29. Mai
Als ich die Augen aufschlug, hörte ich Olivers Schluchzen aus dem Nebenzimmer. Er saß aufrecht im Bett, wimmerte, zitterte am ganzen Körper und starrte auf einen unbestimmten Punkt an der Wand. Noch halb im Schlaf warf er mir die Arme um den Hals und klammerte sich an mich, als ich mich zu ihm setzte. Das tränenfeuchte Kinn gegen meine Brust gepresst, stammelte er: «Jag sie weg, Papa. Jag sie weg.»
«Wen?», fragte ich.
«Die weiße Frau war am Fenster und hat gesagt, der Rex soll die Kinder holen.»
Die weiße Frau, da dachte ich zuerst an einen Geist. Er hatte doch beim Abendessen von einem Gespensterfilm erzählt, in den seine Phantasie nun vielleicht einen Dinosaurier eingebaut hatte. Ich legte ihn wieder hin, deckte ihn zu und versuchte, ihn zu beruhigen. «Am Fenster war niemand.» Da konnte auch niemand gewesen sein, wir wohnten im ersten Stock. «Du hast nur böse geträumt.» Das war zwar noch nie vorgekommen, aber einmal ist immer das erste Mal.
«Ich hab doch gar nicht geschlafen», schluchzte er. «Ich war mit Sven im Garten. Der Rex hat seinen Papa gehauen. Dann haben sie Tante Ella mitgenommen. Sie wollten Sven auch mitnehmen, aber sein Papa hat gesagt, der Junge bleibt hier.»
Und da dachte ich an Manfred Anschütz, der seine Schwester von einem treulosen Gatten wegholte, dabei tüchtig aufräumte und vielleicht seine Frau als Unterstützung mitgenommen hatte. Es ist wirklich nicht so, dass ein Mann, nur weil er seinen Beruf mit Erster Kriminalhauptkommissar angeben darf, gleich hinter jedem Strauch eine Leiche vermutet. Ich hatte noch nicht einmal beruflich etwas mit Kapitaldelikten zu tun. Ich wusste oder glaubte zumindest, dass Alex Godberg private und auch geschäftliche Probleme hatte. Ich hatte ebenfalls Probleme, konnte mit niemandem reden und war ziemlich beschäftigt damit.
Freitag, 30. Mai
Maren ließ nicht locker. Donnerstags hörte ich nichts von ihr, war ja Christi Himmelfahrt, da hatte ich frei. Und am Freitagabend klingelte kurz vor neun das Telefon in unserem Wohnzimmer. Wieder ein unbekannter Anrufer im Display. Hanne nahm ab, meldete sich und hielt mir mit einem Achselzucken, was bedeutete, sie wisse nicht, wer mich um die Zeit noch daheim störe, den Hörer hin.
Ich erkannte ihre Stimme sofort, obwohl sie sich mit einem falschen Namen meldete. Sie gab sich sehr diszipliniert, höflich und unaufdringlich. «Entschuldigen Sie, dass ich Sie privat belästige, Herr Metzner, aber
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