Mit der Linie 4 um die Welt
Annett Gröschner
Die erste Haltestelle lassen wir aus und gehen zweihundert Meter den Damrak entlang. Die Straßenbahn fährt hier sowieso im Schritttempo, weil die Touristen auf den Schienen stehen bleiben, wenn ihr Reiseführer über eine der Sehenswürdigkeiten doziert. Eine ist die Beurs van Berlage, die Kaufmannsbörse, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts von dem experimentierfreudigsten niederländischen Architekten seiner Zeit, Hendrik Petrus Berlage, entworfen wurde, der für das Gebäude klare Linien und strenge Proportionen vorgab und Stahl, Glas und Ziegelstein als Baumaterialien benutzte. Das rief damals Empörung hervor, aber 1999 kürte es die Union Internationale des Architectes zu den tausend wichtigsten Gebäuden der Welt.
Auf dem Platz neben der Börse haben Occupy-Aktivisten ihr Zeltlager aufgeschlagen und trotzen den kühlen Temperaturen und den Zumutungen des globalen Finanzkapitalismus. Dafür ist der Ort gut gewählt. Allerdings wird die Börse inzwischen nicht mehr für Geldgeschäfte, sondern für Kulturveranstaltungen genutzt. Die andere Seite des Platzes wird von der rückwärtigen Fassade des Koninklijke Bijenkorf beherrscht. Königlicher Bienenstock ist kein schlechter Name für das größte Kaufhaus Amsterdams, wo die Arbeitsbienen der Königin nach anstrengender Arbeit den Lohn ihres Tuns verprellen können und danach noch mehr arbeiten müssen, um die Kredite zu tilgen. Das Gebäude zieht sich bis zum Dam, dem wichtigsten Platz der Altstadt. Er wird vom Koninklijk Paleis beherrscht. Alles an Amsterdam ist dem Meer abgetrotzt, kanalisiert, eingedeicht und auf Pfähle gestellt. Der Königspalast hat es sich wie ein Fakir auf 13 659 Pfählen gemütlich gemacht. Eigentlich war er hundertfünfzig Jahre lang das Rathaus, aber 1811, während der Zeit der französischen Besatzung, hatte König Lodewijk Napoleon sich das Gebäude zu seinem Schloss erkoren. Der kleine Napoleon musste zwei Jahre später abdanken, der Palast aber blieb in der Hand der Krone, nicht der Bürger. Heute ist es das Gästehaus der Königin.
Wir nehmen die nächste Straßenbahn. Karin Reitzig ist eine unternehmungslustige Frau, die der Liebe wegen in Amsterdam hängen geblieben ist, seit dreiunddreißig Jahren lebt sie hier. Eigentlich ist sie Fahrradfahrerin, wie es sich für eine Amsterdamerin gehört. Bei schlechtem Wetter aber nimmt sie die 4, die in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung fährt. Die Mitnahme von Fahrrädern in der Straßenbahn ist in Amsterdam verboten. Die einzelnen Linien sind aber auch nicht so lang, dass ein geübter Fahrradfahrer die Strecken nicht aus eigener Kraft schaffen könnte. Die Linie 4 ist die kürzeste. Nach sechs Kilometern ist schon Schluss. Eineinhalb Stunden bräuchte man zu Fuß für die Distanz, zweiundzwanzig Minuten fährt die Straßenbahn vom Hauptbahnhof bis zur Endhaltestelle am Messegelände. Auf dem Weg durch die Stadt kommen sich Fahrräder und Straßenbahn selten ins Gehege, weil jeder seine eigene Spur hat.
An der Wand zum Führerhaus im Inneren des Wagens hängen die Beförderungsbedingungen der GVB . Rollerskates sind verboten, lärmen und rauchen darf man nicht, und auch die Füße nicht auf den Sitz legen. Das wichtigste Gebot: »You must have a valid ticket available for the whole of the journey you making.« Das ist schwieriger als gedacht, denn bevor man in die Straßenbahn einsteigt, muss man erst mal herausbekommen, wie das Fahrscheinsystem funktioniert.
Karin Reitzig hat mir ein elektronisches Ticket mitgebracht, einer Geldkarte ähnlich. Man lädt es mit einer bestimmten Summe auf, die man dann nach und nach abfährt. Beim Einsteigen muss man das Ticket an ein Touchpad halten. Ein Quittungston zeigt an, dass ein Grundtarif abgezogen wurde, der sich erhöht, je länger man mitfährt.
In der Bahn stehe ich einem Kuriosum gegenüber, das es in keiner anderen Stadt, deren Linie 4 ich gefahren bin, gibt: In jeder Straßenbahn, auch den nagelneuen Niederflurbahnen, befindet sich in der Mitte des Wagens ein circa zwei Quadratmeter großes Kabuff aus Glas. In ihm thront leicht erhöht eine Schaffnerin, seltener ein Schaffner. Sie ist dafür da, die Straßenbahnhaltestellen anzusagen, obwohl die zeitgleich auf einem Display angezeigt werden, und Tickets an Gelegenheitskunden zu verkaufen. Manche dieser Conductrices, wie sie hier heißen, sind sehr unfreundlich, haben nie Wechselgeld für Einzelfahrscheine und auch keine Lust, die Haltestellen anzusagen. Manchmal
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