Mit der Linie 4 um die Welt
nachbauen ließen, einschließlich dem Mobiliar, der Tapete und den Puppen, die Mama und Papa ähnlich sehen sollen. Eigentlich eine lohnende Investition für heutige Townhouse-Besitzer mit ihren verwöhnten Kindern. Seltsam, dass noch niemand auf diese Idee gekommen ist, zu den Häusern auch gleich die identischen Puppenhäuser zu verkaufen.
Ein Stück weiter auf der Stadhouderskade und genau gegenüber dem Kreisverkehr ist die Heineken-Brauerei, ein imposantes Gebäude, in dem sich eine Schaubrauerei befindet. Die großen Margen werden schon lange nicht mehr in der Innenstadt hergestellt. Eine Haltestelle weiter, an De Nederlandsche Bank, der Zentralbank, kehrt die Bahn auf ihre Stammstrecke zurück. Wir steigen aus. Karin Reitzig will mir den Albert-Cuyp-Markt direkt an der Strecke der Linie 4 zeigen. Er befindet sich im Stadtviertel De Pijp, in dem viele Studenten und Einwanderer wohnen, die dort kleine Läden und Cafés betreiben. Am Markttag werden die Geschäfte mit Auslagen bis vor zur Straße verlängert. Es gibt Gemüse, Käse und Kram. Etwas befremdet bin ich, als uns ein Zwarte Piet mit seinen Helfern überholt. Sie trommeln und pfeifen. Es ist ein weißhäutiger Holländer mit kraushaariger Perücke, der sich Schuhcreme ins Gesicht geschmiert und dicke Lippen angeklebt hat. Der niederländischen Tradition nach bringen Sinterklaas und Zwarte Piet während des Sinterklaas-Festes am 5. Dezember, mit dem Nikolaustag bei uns vergleichbar, Geschenke. Zwarte Piet klettert dabei durch die Schornsteine der Häuser. Hier auf dem Markt mutet er seltsam an, dieser feiste Weiße mit der Schuhcreme im Gesicht. Befremdlich auch die Ungebrochenheit, mit der ihm begegnet wird.
Karin Reitzig sucht ein Café, das von einem Türken betrieben wird, aber es ist nicht mehr da. Wir kehren zurück zur Straßenbahnhaltestelle der 4. Die Fahrerin sagt »Hello« und »Hi« zu jedem, der einsteigt. In der überfüllten Bahn sammelt sich ein buntes Völkchen aus Alt und Jung, dunkel- und hellhäutig, einheimisch und zugereist. Die Conductrice hat bei einem international agierenden Konfektionshersteller eingekauft, ein Kassenzettel hängt aus der Tüte. Sie beugt sich über die Ablagefläche ihres Kabuffs zu einem Baby hinunter und fragt die Mutter etwas, aber die Frau spricht kein Niederländisch, nur Englisch, was wiederum die Conductrice nicht versteht, die es noch einmal vergeblich mit Deutsch versucht: »Wie heißt denn das Kind?« Im Wagen gibt es, da es keine Zweirichtungswagen sind, sondern die 4 jeweils eine Wendeschleife hat, einen schönen Platz am Heckfenster, wo man die Häuser rechts und links gut betrachten kann. Rückwärts gesehen rechter Hand macht mich Karin Reitzig auf das Diamanten-Viertel aufmerksam, in dem die Straßen nach Edelsteinen benannt sind; rund um den Smaragdplatz gibt es die Diamant-, die Granaat-, die Topas- und die Saffierstraat. Hier lebten und arbeiteten im neunzehnten Jahrhundert die jüdischen Diamantschleifer, die eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der Amsterdamer Arbeiterbewegung spielten, denn die Diamantschleiferei war einer der wichtigsten Industriezweige der Stadt. Die Arbeiter kämpften für bessere soziale Bedingungen und eigene Gewerkschaften. In den dreißiger Jahren wurden hier Reformhäuser der Amsterdamer Schule errichtet, zeitgleich mit Rivierenbuurt, dem Flussviertel, das das Herzstück der Amsterdamer Südstadt bildet und in das die 4 am Victorieplein einbiegt. Man betritt Revierenbuurt durch ein Eingangstor, ein Hochhaus aus den zwanziger Jahren, von dem aus strahlenartig die Straßen abgehen. Das Viertel war Teil des »Plan Zuid«, eines ehrgeizigen Stadtentwicklungsprogramms von Hendrik Petrus Berlage. Es sind Wohnanlagen aus rotem und gelbem Backstein, hell und freundlich, die an die Bauhausarchitektur in Deutschland erinnern. Die 4 fährt hier auf der schnurgeraden, von hohen Pappeln gesäumten Rooseveltlaan. Alles wirkt adrett und zeitlos modern. Die Straßen sind nach den Führern der Alliierten benannt, die Stalinallee allerdings heißt heute Freiheitsallee.
Viele der aus Deutschland emigrierten Juden fanden in den Neubauten Rivierenbuurts eine Wohnung und so etwas wie Normalität, bis der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande am 10. Mai 1940 dem ein Ende setzte. Die bekanntesten Flüchtlinge aus Deutschland waren die Franks mit ihrer Tochter Anne, die in ihrem Tagebuch Zeugnis ablegte über das, was zwischen Juli 1942 und August 1944 mit den
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