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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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sitzen sie nur abweisend in ihrem Glaskasten, lesen Frauenzeitschriften oder schwatzen mit Bekannten, die ihnen zufällig begegnet sind. Eigentlich könnte ihre Arbeit auch das Fahrpersonal oder ein Automat übernehmen, aber nachdem das Schwarzfahren überhandgenommen hatte, führte man dieses viele Jahre zuvor schon abgeschaffte System wieder ein. Hochtechnologie und das alte, kostenintensive Schaffnersystem gehen hier eine seltsame Allianz ein, die eher an eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als an Effizienz denken lässt.
    Anders als in Istanbul, wo man sämtliche Insassen der Bahn auf seinem elektronischen Ticket mitnehmen könnte, indem man mehrmals entwertet, geht das in Amsterdam nicht. Man muss »auschecken«, wenn man die Bahn verlässt. Vergisst man es, fährt das Ticket weiter Straßenbahn.
    Wir kommen den Rokin entlang. Seit 2003 wird an der zweiten Innenstadtlinie der U-Bahn gebaut, was sich wegen erheblicher statischer Probleme wohl noch bis 2015 hinziehen wird. Jeder Eingriff in den Grund der Stadt ist mit Risiken verbunden. Durch die Bauarbeiten sind die Weberhäuser an der Promenade ins Rutschen geraten. Zum Teil stehen nur noch die Fassaden.
    Hinter der Singel, dem mittelalterlichen Festungsgraben, der Amsterdam durchzieht, verlässt die 4 wegen des U-Bahnbaus ihre Stammstrecke und fährt die Vijzelstraße hinunter, wo sich das Stadtarchiv im De-Bazel-Haus, einer alten Bank, befindet. Gegenüber gibt es kleine ausländische Läden – ein russischer Supermarkt, eine asiatische Garküche, eine amerikanische Bagelbäckerei – und gleich daneben einen Coffee-Shop, wo Leute mit großen Pupillen glücklich in die Welt schauen.
    Die gesperrte Stammstrecke dagegen führt nach links und am berühmten Rembrandtplein vorbei, in dessen Umgebung sich ein Teil des Amsterdamer Nachtlebens abspielt, und weiter durch die Utrechtsestraat, deren Restaurants und teure Boutiquen ein Paradebeispiel für die gentrifizierte Stadt sind. Zwischen der Alternativ- und der Boutiquenkultur liegen dreißig Jahre. Ende der siebziger Jahre, als für den Bau der ersten U-Bahnstrecke ganze Viertel abgerissen wurden, durch den Mangel an Sozialwohnungen Wohnungsnot herrschte und zugleich aber viele Häuser in der Innenstadt leer standen, gab es hier eine der kraftvollsten und bestorganisierten Hausbesetzerbewegungen Europas, die Kraker. In Hochzeiten waren es fünftausend Besetzer in hundertfünfzig Häusern. Am Abend werde ich bei einer Podiumsdiskussion etlichen dieser ehemaligen Hausbesetzer gegenübersitzen, die bedauern, dass es in der heutigen Amsterdamer Innenstadt kaum noch Freiräume für junge Leute gibt und jede Abweichung von der Norm mit Restriktionen belegt ist. Seit dem 1. Oktober 2010 ist die Hausbesetzung in den Niederlanden gesetzlich verboten. Durchgesetzt haben sich die Rechtspopulisten, die argumentierten, dass dieses Verbot Amsterdam von »Asozialen« und unerwünschten Ausländern befreien würde. Auch die Coffee-Shops mussten den Verkauf von Haschisch einschränken und werden zunehmend verdrängt.
    Die Bahn durchquert auf ihrer Ausweichstrecke das Herz Amsterdams, das von Grachten und den dicht an dicht aneinandergereihten Giebelhäusern dominiert ist. Wir fahren über die Brücken der Herengracht, Keizersgracht, Prinsengracht und Lijnbaansgracht, und an jeder Brücke muss die Bahn eine leichte Steigung überwinden. Ohne aufzuschauen, kann man so die Brücken zählen und weiß, wo man sich befindet.
    Die Elektrische Nr. 4 gibt es seit dem 7. Mai 1904. Schon damals fuhr sie vom Bahnhof aus in den Süden bis zum Amsteldijk. Im Laufe der Jahre wurde sie Stück für Stück immer weiter nach Süden und über die Gemeindegrenzen hinaus verlängert, seit 1950 fährt die Bahn bis Rivierenbuurt. Seit 1981 endet sie an der Station RAI. An der Weteringschans muss sie eine seltsame Schleife fahren. Die Kurve war hier zu eng, sodass man 1953 einen Kreisverkehr geschaffen hat. Beim Umfahren kann man auf der anderen Seite des Kanals rechter Hand das Rijksmuseum sehen, das Ähnlichkeit mit Amsterdam Centraal hat, was aber nicht weiter verwundert, denn beide Gebäude wurden von demselben Architekten, Pierre Cuypers, entworfen.
    Im Rijksmuseum werden die Rembrandts, Vermeers und Hals’ in provisorischen Präsentationen ausgestellt, es wird auch hier schon seit Jahren gebaut. Aus Platzmangel hängen die Gemälde zwischen Möbeln aus derselben Epoche und Puppenhäusern, die reiche Amsterdamer für ihre Kinder maßstabsgetreu

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