Mit der Linie 4 um die Welt
Amsterdamer Juden passierte.
An der Waalstraat Ecke Rooseveltlaan ist heute noch der Schreibwarenladen, in dessen Schaufenster einst das rot-weiß eingeschlagene Tagebuch mit dem Schloss lag, das Anne sich von ihrem Vater zum Geburtstag gewünscht hatte und auch bekam. Einen Monat nach Annes dreizehntem Geburtstag musste die Familie in das Versteck in der Prinsengracht 263, das heute als Museum dient, fliehen, zu Fuß. Gleich am Anfang ihres Tagebuchs rekapituliert Anne Frank die Situation, in der sie sich befindet: »Ein diktatorisches Gesetz folgt dem nächsten, und speziell für Juden wurde es besonders schlimm. Sie mussten den Stern tragen, sie mussten die Fahrräder abgeben; sie durften nicht mehr mit der Elektrischen fahren …« Am 24. Juni 1942 notiert sie: »Es ist glühend heiß. Jeder schnauft und schwitzt, und in dieser Hitze muss ich jeden Weg laufen. Jetzt sehe ich erst ein, wie angenehm die Elektrische ist, vor allem die offenen Wagen. Aber das ist ein Genuss, der für uns Juden nicht mehr existiert, für uns sind die ›Gebrüder Beenekens‹ gerade gut genug.«
Die Grundschule, wenige Hundert Meter von der Straßenbahnhaltestelle entfernt, ist nach Anne Frank benannt, an der Fassade stehen ein paar Sätze aus dem Tagebuch in Annes Schrift. In diesem Gebäude besuchte sie die Montessorischule, bis Juden ab Sommer 1941 nicht mehr zusammen mit Nichtjuden zur Schule gehen durften und Anne mit ihrer Schwester auf die Jüdische Schule wechselte. An den Geländern auf dem Gehweg sind Kinderfahrräder angeschlossen.
Auch die Konditorei Oase, der einzige Laden, in dem es Juden im Sommer 1942 noch erlaubt war, Eis zu essen, existiert noch; heute ist die Oase eine Snackbar. Der Besitzer hat alle Artikel, die über Anne Frank und sein Lokal berichten, in seinem Laden an die Wand gehängt.
In der Grünanlage des Merwedeplein steht ein Denkmal für Anne Frank, ein Mädchen mit einem Köfferchen, das noch ein Mal einen Blick zurückwirft auf das Haus Nr. 37. Es nimmt eine Passage des Tagebuchs auf, in der Anne Frank beschreibt, wie sie es vermieden, bei ihrer Flucht aus der Wohnung aufzufallen. Sie trugen die Kleidung nicht in Koffern, sondern am Körper: »Ich hatte zwei Hemden und zwei Paar Strümpfe an, drei Schlüpfer und ein Kleidchen, darüber Rock und Jacke und einen Sommermantel, meine besten Schuhe, Überschuhe, Schal, Mütze und noch allerlei. Ich erstickte beinahe zu Hause schon, aber niemand kümmerte sich darum.« In der Wohnung der Franks in der Merwedeplein 37 werden seit 2005 politisch verfolgte Schriftsteller untergebracht. Im Moment wird das Haus renoviert; auf einem Gerüst sind Bauarbeiter mit dem Streichen der Fenster beschäftigt.
Das letzte Stück der Linie 4 führt zum Messegelände RAI – einem Ort, der so ganz anders ist als der Rest der Stadt. Denn in Amsterdam musste jeder Quadratmeter dem Meer entrissen werden. Hier aber wurde Platz verschwendet, als wäre man in Kasachstan. Und auch die nächste Haltestelle, der Bahnhof RAI , sieht dem Amsterdam der sechzehn Stationen davor nicht ähnlich. Die Betonbrücke mit der Straßenbahnhaltestelle darunter könnte auch der Bahnhofsvorplatz von Halle an der Saale, der Magdeburger Damaschkeplatz, die Bahnhofsnordseite von Hannover oder die Autopista von Buenos Aires sein. Wenn da nicht all die Hollandräder vor dem Eingang zum Bahnhof wären. »An der Endhaltestelle gibt es nichts zu lachen«, schreibt Gerri Eickhof in seinem Buch Met de Tram door Amsterdam über die 4. Da hat er recht.
Nachtrag: Am 1. Dezember sitze ich nachmittags im Amsterdamer Stadtarchiv im De-Bazel-Haus, um in Straßenbahnbüchern über die Linie 4 nachzulesen. Als ich ein niederländisches Wort nicht deuten kann und im Internet nach einer Übersetzung suche, stolpere ich über eine Eilmeldung: »Christa Wolf ist gestorben.« Fern von Berlin, gerade noch vertieft in die Lektüre über die Stadt Amsterdam muss ich heulen, einfach so, ohne jede Reflexion, was dieser Tod für mich, was ihr Werk für mein Schreiben bedeutete. Zu Hause suche ich nach Straßenbahnen in Christa Wolfs Büchern und finde eine im Geteilten Himmel: »Sie fand keine Zeit, irgendetwas zu bedauern. Sie passte sich dem hastigen Rhythmus des frühen Morgens an. Sie stand an der Straßenbahnhaltestelle, als das erste fahle, kalte Grau über den Himmel kroch. Sie fror und war froh, als sie sich in den vollen Wagen drängen konnte. Dann zählte sie die Haltestellen, bis sie aussteigen musste.«
Stadt
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