Mit der Linie 4 um die Welt
verändert hat. Aber in der Werbepause glaubt sie zu hören, wie der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür umgedreht wird. Gleich wird ihr Sohn ins Wohnzimmer treten, und sie wird ihn fragen: Wo bist du so spät noch gewesen? Du musst morgen zur Schule. Aber dann geht die Sendung weiter und keiner hat den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Ihr Sohn ist mit einem Auto gegen einen Baum gefahren. Die Trauer ist durch die Scheiben des Busses zu spüren, in dem ich an der Frau vorbeifahre, jeden Tag aufs Neue.
© Annett Gröschner
Die Linie 4 beschreibt auf dem Stadtplan die Form eines Dietrichs, mit dem sich einfache Schlösser knacken lassen. Vom Friedhof fährt sie direkt in die Stadt, um nach drei Haltestellen in Atlantis zu halten. Es ist nur der Name einer Großraumdisko, ein architektonisch nicht uninteressanter spätsozialistischer Gesellschaftsbau, der am weidengesäumten Ufer des Emajõgi steht. Der Fluss durchzieht Tartu von Nordwest nach Südost. Neben dem Atlantis stehen Angler, obwohl es schon so kalt ist, dass kleine Eisschollen auf dem Wasser schwimmen.
Der Bus überquert die Brücke. Ich bin auf dem Weg in die Universität, wo ich im Germanistischen Seminar einen Schreibkurs gebe. Außer Atem springt ein Mädchen in letzter Sekunde noch in den Bus. Es trägt eine Ultraschallaufnahme in der Hand, hält sie vor dem Anfahren des Busses kurz ins Licht. Es könnte ein Fötus darauf sein oder die Abbildung des Mondes, aber ehe ich mich entschieden habe, steckt sie sie in ihre Umhängetasche. Hinter der Brücke hängt ein echter Mercedes an der Fassade des Monte-Carlo-Kasinos am Busbahnhof. Selten gewinnt jemand so viel, dass es für so einen Wagen reicht, eher lässt sich die Summe an einem Abend verlieren. Eine der Studentinnen jobbt dort als Croupier. Die Spieler, hat sie erzählt, seien zu achtzig Prozent Esten und der Rest Spielsüchtige auf Reisen. Sie würde gerne dort aufhören, weil sie von den Gästen »als emotionaler Mülleimer missbraucht wird«, wie sie sagt, aber sie hat ein Kind zu ernähren. An der nächsten Haltestelle steige ich aus, um zur Uni zu laufen. Auf dem Rathausplatz ist noch nicht viel los, niemand wartet vor dem Brunnen der küssenden Studenten, einem beliebten Treffpunkt und das berühmteste Denkmal der Stadt. Korrekterweise müsste es Brunnen der küssenden Studierenden heißen, denn es handelt sich unzweifelhaft um Frau und Mann. Auch im Bus wird viel geküsst, nur hält nie eine Frau den Fuß so keck vom Körper weg wie die weibliche Figur auf dem Brunnen.
Auf die Tartuer Universität trifft das Wort von der altehrwürdigen Alma Mater ganz sicher eher zu als auf Hunderte andere in Europa. Schon 1632 wurde sie vom schwedischen König Gustav II. Adolf gegründet, auch wenn sie 1699, vor Beginn des Großen Nordischen Kriegs, erst einmal für hundertunddrei Jahre geschlossen wurde. Als Tartu noch Dorpat hieß, unterrichteten hier viele deutsche Gelehrte. Die Unterrichtssprache war Deutsch. Tharbatas, Tartu, Dorpat, Dörpt, Jurjew, jeder Besatzer, ob Schweden, Deutsche oder Russen, hatte eine andere Bezeichnung für den Ort, der wohl zuerst, im elften Jahrhundert, so ist es schriftlich festgehalten, eine finno-ugrische Holzfestung war. Ab dem dreizehnten Jahrhundert gehörte die Stadt zur Hanse. Sie verband Reval mit dem russischen Pskow und Nowgorod. Als Dorpat gehörte sie seit 1721 zum russischen Zarenreich, Gouvernement Livland. 1918 wurde Estland zum ersten Mal unabhängig. Seitdem heißt die Stadt Tartu.
Ich bin neu hier, ich kenne Tartu nicht. Ich bitte die Studierenden, mir aufzuschreiben, wie sie sich Tartu vorstellten, wenn sie eine Frau wäre. Für mich ist sie bis dato verschleiert. Ein Schleier aus dicht gewebter Gaze. Die Studierenden sind sich nicht einig: »Tartu ist intelligent und hat große Augen, die in die Zukunft schauen.« – »Tartu ist eine ältere, gebildete Frau, die sich ab und zu Schönheitsoperationen unterzieht, um moderner zu erscheinen.« – »Tartu ist ein chaotischer, aber lebenslustiger Nachkomme vieler Nationalitäten.« – »Tartu ist eine junge mütterliche, langhaarige, musikalisch begabte, gebildete Frau, die freundlich, aber schüchtern lächelt und ohne Worte viel sagt.« – »Tartu kann man mit einer älteren, etwas altmodisch gekleideten und sehr gebildeten Frau vergleichen, die sich für Kunst und Literatur interessiert und in einem alten Haus in Karlova wohnt.« Ins Stadtviertel Karlova. Da fährt auch die 4 durch. Und irgendwie
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