Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
erinnert. 1970 und 1980 kam es hier zu Arbeiteraufständen, die zum Teil blutig niedergeschlagen wurden.
    Die polnische Stadt hat die deutsche Stadt überdeckt wie ein Teppich den schadhaften Fußboden. Schaut man darunter, sieht man die aus ehemals preußischen Städten vertrauten Bordsteine, Gehwegplatten und Gullydeckel, die Gründerzeithäuser und die protestantischen Kirchenbauten aus rotem Backstein. Die Steine sprechen noch Deutsch, hat ein Szczeciner Stadtpräsident einmal gesagt. Es sind die Brüche, die Verwerfungen dieser drei Epochen, die deutsche, die polnisch-sozialistische und die gegenwärtige, die Szczecin heute so spannend machen, auch wenn die Stadt trotz der Nähe zu Berlin immer noch ein Geheimtipp ist.
    Am Rodła Platz ist das sozialistische Szczecin architektonisch sehr präsent, aber auch die Zeit nach dem Umbruch, als das Hochhaus für das Radisson SAS gebaut wurde, das zu einem Rundblick einlädt. Der Platz ist der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Hier wird es so voll in der 4, dass keine Stecknadel mehr Platz hat. Ein Beiwagen wäre nicht schlecht, aber vielleicht sind die Schienen dem Gewicht nicht gewachsen; vor allem auf dem letzten Abschnitt vor der Endhaltestelle Potulicka fallen die Gleise fast aus ihrem Bett und die Bahn kommt nur in Schrittgeschwindigkeit voran. Samstags fährt die 4 gar nicht.
    Plötzlich erstirbt jeglicher Straßenbahnverkehr. Ich habe es erst gar nicht bemerkt, an dieser Stelle stehen die Bahnen wegen der Größe und Unübersichtlichkeit der Kreuzung immer sehr lange. Aber irgendwann wird es unruhig in der Bahn, die Türen öffnen sich, die Ersten steigen aus, um nachzuschauen, was los ist. Auf der Mitte der Kreuzung ist eine 2 liegen geblieben, der Bügel der Bahn geht hoch und runter, als wollte er die anderen grüßen, aber er nimmt keinen Strom mehr ab. Die Insassen verlassen die Bahn und stöckeln wie Störche auf dem Seitenstreifen aus Kieselsteinen und Gras, bis sie eine Lücke im Verkehr gefunden haben und auf die andere Straßenseite überwechseln. Es dauert recht lange, bis eine andere Bahn die defekte 2 aus dem Weg schiebt. Eine Reihe von Straßenbahnen hat sich inzwischen angestaut. Die Fahrer sind ausgestiegen und stecken die Köpfe zusammen. Sie tragen keine Uniformen, sie sind nur an den gut sichtbaren Dienstausweisen zu erkennen. Hinter der 4, mit der ich unterwegs bin, steht ein alter rot-weiß lackierter Wagen, eine historische Straßenbahn der Nachkriegszeit, Weiterentwicklungen der deutschen Kriegsstraßenbahnwagen, die in Polen hergestellt wurden. Am 24. April 1945 war der Straßenbahnverkehr von den deutschen Behörden eingestellt worden, am 12. August 1945 wurde er unter polnischer Leitung erneut aufgenommen. Auch eine 4 gab es bald wieder, nur dass sie jetzt »cztery« hieß. Dazwischen lagen Monate im Niemandsland. Diese Zeit des Nichtmehr und Nochnicht, nicht länger deutsch, aber auch noch nicht polnisch, hat der Szczeciner Schriftsteller Artur Daniel Liskowacki in seinem Roman Sonate für S . beschrieben. Er erzählt darin vom langsamen Abschied der Stettiner von ihrer Stadt und der Ankunft der neuen Szczeciner in einer unbekannten Welt. Es wird oft Straßenbahn gefahren im Roman, meist mit der 7. »Die von der Stadt kommende Straßenbahn, die Sieben, klingelt so wie früher. Die Sieben, aber die Wagen sind jetzt rot«, heißt es an einer Stelle im Buch, und man stellt sich beim Lesen eine Bahn vor wie die, die hinter meiner 4 steht und jetzt klingelt, »so wie früher«, was heißt, am lautesten von allen, und so die Aufhebung der Unterbrechung ankündigt. Alle steigen wieder in ihre Wagen, die Gespräche verstummen.
    Die 4 überquert den Platz und gelangt in die äußere Neustadt, in der alle Straßen auf den Plac Grunwaldski zulaufen. Das sieht auf dem Stadtplan wie ein Spinnennetz aus. Stettin war lange eine preußische Festung, erst als sie fiel, konnte sich die Stadt vergrößern. 1843 wurde die Eisenbahnstrecke Berlin–Stettin eingeweiht. Anstelle der Festungsanlagen entstand unter Oberbürgermeister Hermann Haken, nach dem die berühmten Hakenterrassen an der Oder benannt sind, die äußere Neustadt, die mit ihren kreisrunden Plätzen und den baumbestandenen Alleen ein bisschen an das Paris der Haussmann-Zeit erinnert, aber auch an die im Rahmen des Hobrecht-Plans entstandenen Gründerzeitviertel Berlins. Nur hatte die Kaufmannschaft Stettins einen größeren Gestaltungsdrang, es gibt mehr Stuck und Zinnen und

Weitere Kostenlose Bücher