Mit der Linie 4 um die Welt
finde ich alle diese Frauen später im Bus wieder.
Ich frage nach dem Seminar eine meiner Kolleginnen, wie das Leben in Tartu zu Sowjetzeiten gewesen war. »Tartu war eine geschlossene Stadt«, sagt eine der Frauen. »Da kam keine Luft ran«, sagt eine andere. »Aber warum, weiß ich nicht mehr.« – »Wegen des Flughafens.« – »Wegen des winzigen Flughafens?« – »Ja, Militär.«
Tartu nennt sich selbst »Stadt der guten Gedanken«, da bleiben Diskussionen nicht aus, vor allem dann nicht, wenn die Ideen nicht richtig durchdacht scheinen. Das Kaubamaja-Einkaufszentrum hat man zum Beispiel mitten in die Altstadt gestellt, sodass es jede Blickachse und die Struktur der Altstadt empfindlich stört. Böse Zungen nennen es die »Universität von Tallinn«. Und trotzdem kauft dort jeder ein, weil es so schön zentral liegt und bis eine Stunde vor Mitternacht geöffnet hat. Am Eingang wartet Tokio Hotel auf einem Riesenplakat und lockt die Mädchen ins Gebäude. Außerdem ist es im Winter geheizt; das ist der Ort, an dem man sich trifft, wo Mädchen Jungs beobachten und dabei kichern, wo das Restaurant unterm Dach mittags immer voll ist, weil es preiswert ist und man über die ganze Stadt sehen kann. Nachts, wenn kaum noch Kunden da sind, laden die jungen Verkäuferinnen ihre Lover ein und simulieren Verkaufsgespräche mit ihnen. Als ich zur Bushaltestelle gehe, schafft der Sicherheitsdienst gerade einen Mann raus, der verwirrt ist und sich in die Hose gemacht hat. Vor dem Eingang setzen sie ihn ab und überlassen ihn seinem Schicksal.
Kaubamaja ist einer der Knotenpunkte der Stadt, eine Sammelhaltestelle, wo sich fast alle Busse treffen. Auch die 4 hat hier ihre wichtigste Umsteigestation. Ich nehme den nächsten Bus. Eine Frau mit lila Mütze klettert mit Mühe in den Bus, ihr wird bereitwillig Platz gemacht. In Höhe ihres Bauchnabels baumelt ein Katzenauge an einem langen Strick, den sie um den Hals trägt, damit Autofahrer sie auch im Dunkeln sehen können. Das ist Vorschrift in Estland. Wer kein Katzenauge hat, muss Strafe zahlen. Die Werbeindustrie hat sich das inzwischen zunutze gemacht. Die meisten Reflektoren reflektieren nicht nur, sondern machen Reklame für alles Mögliche, das mit Tag oder Nacht nicht viel zu tun hat. Bei der alten Frau ist es eine Versicherung. Auf dem zweiten Platz, der für Menschen mit Behinderung reserviert ist, sitzt ein Mann, der permanent den Kopf schüttelt. Es ist aber nicht Unmut, sondern Parkinson. Über ihm kleben die Symbole derjenigen Personengruppen, denen die Plätze vorbehalten sind. Sie sind von Land zu Land verschieden, aber trotzdem für jeden zu verstehen: eine Person mit eineinhalb Beinen und Krücken, eine Person mit vorstehendem Bauch, eine leicht vorgebeugte Person mit einem Stock und eine Person mit Kind auf dem Arm und Aktentasche in der Hand. Besonders letzteres Zeichen gefällt mir. Woanders hätten wahrscheinlich stilisierte Möhrenbüschel aus einem Einkaufskorb geguckt. Dass Person mit Bauch und Person mit Kind Frauen sind, ist an der nach unten hin ausgestellten Kleidung, unschwer als Kleid zu identifizieren, zu erkennen. Personen ohne Kleid und mit Kind gibt es dagegen nirgendwo auf der Welt, ich zumindest habe so ein Zeichen bisher nicht gesehen.
In den Tartuer Bussen, die zwar nicht immer neu, aber sehr sauber sind, sehen die Muster der Sitzpolster aus wie Google-Earth von weit oben. Es gibt keine Schaffnerinnen, sondern altmodische Knipsautomaten wie früher in Ostdeutschland. In die Fahrscheine, die man vor Betreten des Busses kaufen muss, werden Löcher gestanzt. 10 Kronen kostet ein Fahrschein. Das ist viel Geld, die Arbeitslosenunterstützung beträgt in Estland nur 500 Kronen monatlich. Eine Lehrerin bekommt als Anfangsgehalt 5000 Kronen. An den Haltstellen wird im Moment für Gin in der Büchse geworben.
Auf dem Weg zur Endhaltestelle Ringtee steige ich in der Riia aus, um mir die imposante Kirche anzusehen. Vom Bus aus erinnert sie an eine altmodische Patronenhülse. Der wuchtige Ziegelsteinbau mit dem frisch renovierten Kupferdach ist später Jugendstil, das Militaristische wohl der Bauzeit geschuldet, die mitten im Ersten Weltkrieg lag. Da gehörte Tartu noch zum Zarenreich. Im Innenraum riecht es süßlich. Vor dem Altar ist eine Tote aufgebahrt, was mich wundert, denn dies ist keine orthodoxe Kirche, sondern eine evangelisch-lutherische, in der Aufbahren nicht üblich ist. Die Kirche ist nach dem Apostel Paulus benannt. Elena heißt
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