Mit der Linie 4 um die Welt
Türmchen. Und niemand wollte sich nach dem Krieg die Mühe machen, das alles abzuschlagen, weil es nicht mehr modern war. Bis jetzt hat das Viertel noch den Vorteil, dass es nicht totgentrifiziert ist. Es gibt nicht nur Cafés und Boutiquen, sondern auch kleine Handwerksbetriebe und Sanitätsgeschäfte. Die Bahn nimmt hier Fahrt auf, weil sie sich die Fahrbahn nicht mehr mit Autos teilen muss. An der Barnimstraße, heute Aleja Piastów, sind damals wie heute jede Menge Schulen, unter anderem das erste Lyzeum der Stadt, das nach der Physikerin Marie Curie benannt ist.
Es gibt sogar ein Gedicht über die Szczeciner Linie 4, aus dem Jahr 2005, von Tomasz Drzazgowski: Tramwajem numer cztery , Straßenbahn Nummer vier . Es sind nicht mehr als fünf Zeilen, in denen es heißt, dass Szczecin ein Dorf mit Trambahn sei. Auf der Strecke der Linie 4 ist es wenig dörflich, auch wenn die Endhaltestelle nach einem Dorf benannt ist: Pomorzany, Pommerensdorf. Hier wurde im neunzehnten Jahrhundert alles das angesiedelt, was roch und unangenehm war: energieintensive Industriezweige, eine Brauerei, das damals modernste Krankenhaus Europas und der Zentralfriedhof. Siedlungsbauten der zwanziger Jahre wechseln sich mit Plattenbauten ab. Das Gelände steigt leicht an, es ist eine Endmoräne, wie sie im Gebiet der Weichseleiszeit zu finden ist. Kein Wunder, dass hier die Brauerei angelegt wurde, wo man die Lagerkeller tief in das Erdreich graben konnte. Ich mache einen Abstecher zum Zentralfriedhof, der an den Stadtfriedhof Stöcken in Hannover erinnert. Vor der Kapelle, die so groß ist wie eine Kirche, steht ein Leichenwagen. Die hintere Klappe ist offen, der Sarg wird gerade in die Aussegnungshalle gebracht. Die Trauergemeinde steht schon mit gesenkten Köpfen bereit, sich zu verabschieden. Das Bestattungsunternehmen heißt Eden.
Das Ende der Geschichte dieser Fahrt mit der Szczeciner Straßenbahn Nr. 4 könnte sich so zutragen: Die Frau verlässt den Friedhof und steigt an der Haltestelle Starkiewicza in die Tatra-Bahn und fährt die sieben Kilometer zurück. Als sie Höhe Plac Grunwaldski ist, singt der Motor der Tatra-Bahn sie in den Schlaf und bringt sie zum Plac Zawiszy. Dort nimmt ein hilfsbereiter Mensch die Schläferin an die Hand, führt sie die leicht abfallende Straße hinunter zur Gleisüberführung des Szczecin Główny und in den Regionalexpress der Deutschen Bahn. Eineinhalb Stunden später, die Schläferin ist kurz in Angermünde umgestiegen, kommt sie in Berlin-Gesundbrunnen an und nimmt von dort die Ringbahn, diesmal im Uhrzeigersinn, bis zum S-Bahnhof Greifswalder Straße, der freundliche Mensch geleitet die Schlafende die Treppen hinunter und durch die Unterführung bis zum Gleis der Straßenbahn 4. Eine Tatra-Bahn hält vor ihr, sie wird auf einen Sitz mit Blick auf die Fahrerkabine gesetzt. Die Bahn fährt Richtung Falkenberg. Hinter der Buschallee wird die 4 schneller, bis der Motor anfängt zu singen. Die Frau ist sehr durcheinander, als sie am Linden-Center in Hohenschönhausen aufwacht, weil die Bahn wegen eines fehlgeleiteten Linksabbiegers scharf bremsen muss. Sie hat geträumt, aber sie hat vergessen, was es war.
Stadt der
guten Gedanken
Tartu, Estland
J eden Tag geht eine Frau den langen Weg von der Stadt bis hinauf auf den Friedhof in Raadi-Kruusamäe. Sie könnte den Bus Nr. 4 nehmen, der am Friedhofseingang seine Endhaltestelle hat, aber sie braucht die Bewegung, kann nur beim Gehen nachdenken. Jeden Tag steht sie vor dem mit vielen Blumen geschmückten Grab. Sie sammelt die verblühten Blätter ein und wirft sie weg, aber es werden nicht weniger; wenn sie am nächsten Tag wiederkommt, liegen da neue Sträuße. Am Grab ist sie immer allein, die anderen gehen ihr aus dem Weg. Sie sieht sie manchmal hinter den Buchsbaumhecken warten, bis sie den Friedhof verlassen hat. Danach läuft sie denselben Weg zurück in die Stadt und in ihre Wohnung, wo das Zimmer ihres Sohnes unverändert ist. Jedes Mal wenn sie die Zimmertür öffnet, ist sie erstaunt, dass die neuen Sneakers noch neben dem Bett stehen. Unberührt. Ihr Sohn hat sie nur ein Mal angehabt.
Die Literatur, mit der sie so viele Jahrzehnte verbracht hat, ist ihr kein Trost. Auch nicht, wenn es darin um Verluste geht. Mittwochs sitzt sie abends vor dem Fernseher und schaut sich über Satellit auf RTL Let’s Dance an. Wenn die Paare über die Tanzfläche schweben, kann sie einen Moment lang vergessen, was ihr Leben von einer Sekunde auf die andere
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