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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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die Tote, so steht es auf einem kleinen Schild am Sarg. Sie ist nicht alt geworden, ihre Haut ist glatt und hat einen grauen Schimmer. Außer uns beiden ist keiner in der Kirche. Ich überlege, ob man noch von »uns beiden« sprechen darf, wenn eine der beiden nicht mehr lebt. Draußen wartet ein weißer Cadillac.
    An der Ecke zur Võru-Straße, wo die 4 Richtung Süden abbiegt, warte ich auf den nächsten Bus. Gegenüber ist ein großes Kino. Es werden die üblichen englischen oder amerikanischen Blockbuster gezeigt mit James Bond und Mr. Bean, mit estnischen Untertiteln. An der nächsten Haltestelle entert die Firma Falke den Bus, drei Männer, die an Freibeuter erinnern. Falke hat in Tartu die Kontrolle und Sicherheit unter sich, wenn sie nicht unter die Hoheit des Staats fällt. Zur Kontrolle des Busses haben sie finstere Typen in Lederhosen losgeschickt, die alle drei Ausgänge verstellen. Sie lassen die Türen schließen, und niemand darf mehr rein und raus, bis sie den letzten »Hasen« erwischt haben. Besonders beliebt ist unter Schwarzfahrern, die Fahrscheine zu bügeln. So lassen sich die gestanzten Löcher, die meist nur angestanzt sind, nicht sofort erkennen. Deshalb halten die Kontrolleure die Fahrscheine gegen das Licht. Eine Frau beschimpft einen der Männer auf Russisch. Der verbittet sich die Sprache der Besatzer. Die Frau wird daraufhin von einer anderen Russin angesprochen und beide regen sich in schnellem Russisch über die allgemeinen Zustände auf. »Man müsste gehen, man müsste gehen«, sagt die eine immer und immer wieder. Es gehen dann aber nur die Sicherheitsleute, an der nächsten Haltestelle, ohne jemanden überführt zu haben.
    Auf der Trennwand zur Fahrerkabine ist ein Bildschirm angebracht, der die nächste Haltestelle anzeigt. Zwischendurch wird er als Abspielstation für Werbung genutzt. Im Moment wird gezeigt, wie Würste hergestellt werden, die am Ende des Spots auf dem Grill landen. Unterbrochen wird die Braterei von der nächsten Haltestelle, Kalmistu, wieder ein Friedhof. Ein paar alte Mütterchen steigen aus.
    Wir sind nun im Viertel Karlova; hier gibt es viele Holzhäuser, die wegen der hohen Brandgefahr früher meistens nur außerhalb des Stadtkerns gebaut wurden. In Tartu brannte 1775 die gesamte Innenstadt ab. Die Stromleitungen sind in vier Metern Höhe zwischen den Häusern verspannt, was aussieht, als sollten die Häuser davor bewahrt werden, wegzulaufen oder umzufallen. Viele haben Asbestdächer, die Wasserleitungen laufen oft außen entlang. Dazwischen gibt es deutsche Supermärkte und Tankstellen westeuropäischer Marken. Vor dem nächsten Stopp, der Endhaltestelle der 4, macht die Siedlung einem am späten Nachmittag verlassen wirkenden Industriegebiet Platz. An der Endhaltestelle steht niemand außer einem alten, etwas heruntergekommen wirkenden Mann mit einem noch älteren Kinderwagen, in dem seine Habseligkeiten verstaut sind. Er stützt sich auf einen Stock, der mal ein Besen gewesen ist. Der Busfahrer gibt ihm in harschem Ton zu verstehen, dass er ihn nicht mitnehmen werde. Der alte Mann lässt die Schultern fallen, den Kopf, die Arme. Dann schiebt er den Wagen wieder zum Bushäuschen und stellt sich dorthin, als wollte er der Erste in der Schlange für den nächsten Bus sein.
    Ich fahre zurück, um mich am Abend mit den anderen Dozentinnen, außer mir nur Estinnen, in der Nähe der Linie 4 in einem Restaurant namens Oscar Wilde zu treffen. Dort kommt das Gespräch auf unsere Zeit als Homo sovieticus, und plötzlich fragt eine der Frauen, ob wir uns noch an den Tag erinnern könnten, als Leonid Breschnew starb, und alle sagen Ja. Schließlich war er als Parteiführer so schrecklich lange an der Macht, so lange, dass kaum eine von uns sich damals vorstellen konnte, was danach kommen würde. Aber dann starben auch die nächsten beiden Führer kurz hintereinander, und wir hatten uns inzwischen schon so an Veränderungen gewöhnt, dass uns ein Zusammenbruch des Systems nicht mehr erschüttern konnte. Eine fragt: »Wisst ihr noch, die Beerdigung?« – »Ja, ich erinnere mich, wie die Witwe vor Trauer den Leichnam fast abschleckte.« – »Dabei war der Typ an die achtzig, dement und alkoholkrank.« – »Und dann diese alten Generäle, die sich um den besten Platz an der Leiche kabbelten.« – »Und das Orchester, das falsch spielte, manche behaupteten hinter vorgehaltener Hand, mit Absicht.« – »Und der Sarg, der kopfüber in das Loch polterte.« Dann müssen

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