Mit der Linie 4 um die Welt
wir so lachen, dass es uns die Tränen in die Augen treibt. In diesem Moment bin ich den estnischen Frauen viel näher als jeder Westdeutschen meines Alters.
Als ich abends in mein Hotelzimmer zurückkehre, sehe ich die Frau, wie sie den Weg zum Friedhof herunterkommt und in den Katakomben des Kaubamaja-Markts verschwindet.
Von der Kunst des Rückwärts-
die-Hand-Aufhaltens
Tel Aviv, Israel
A m Donnerstag, den 19. September 2002, kurz vor 13 Uhr, passierte ein Bus der Linie 4 der städtischen Busgesellschaft Dan auf dem Weg vom Zentralen Busbahnhof in den Norden Tel Avivs die Allenby-Straße auf der Höhe der Großen Synagoge, als eine Detonation den vorderen Teil des Busses erschütterte. Ein junger Mann, der kurz zuvor in den voll besetzten Bus eingestiegen war, hatte sich in die Luft gesprengt. Die Explosion zersplitterte die Fenster und setzte das Fahrzeug in Brand, das noch hundert Meter langsam weiterrollte, bis es am Bordstein zum Stehen kam.
Bei dem Bombenanschlag verloren neben dem Attentäter sechs Menschen ihr Leben: Jaffa Schemtow, neunundvierzig, Schulkrankenschwester, die an diesem Tag bis um 16 Uhr hätte arbeiten müssen, sich aber freigenommen hatte, Rosanna Siso, dreiundsechzig, die aus ihrer Boutique auf der Allenby-Straße getreten war, um sich etwas zum Mittagessen zu kaufen, der Student Ofer Zinger, neunundzwanzig, der nur schnell zur Post wollte, Toni Jesner, neunzehn, aus Glasgow in Schottland, der mit seinem Cousin Gideon auf dem Weg in ein Tel Aviver Hotel war, wo sie das Laubhüttenfest feiern wollten, der Rentner Solomon Hoenig, neunundsiebzig, der an derselben Haltestelle wie der Selbstmordattentäter in den Bus gestiegen war und, weil er unmittelbar neben ihm stand, von der Wucht der Explosion auf der Stelle getötet wurde, und der Busfahrer, Jossi Mamistawlow, neununddreißig, der, so Augenzeugen, den Selbstmordattentäter auf dem Weg ins Innere des Busses gestoppt haben soll und somit noch mehr Opfer verhindert hatte. Siebzig Personen wurden verletzt. Die palästinensische Hamas bekannte sich zu der Tat. Es war die Zeit der zweiten Intifada. Seit sechs Wochen hatte es keine Anschläge mehr gegeben, und es gab die Hoffnung, der brüchige Waffenstillstand könnte halten. An diesem Mittag auf der Tel Aviver Hauptstraße wurde sie zunichtegemacht. Noch während das Regierungskabinett um den israelischen Premierminister Ariel Scharon tagte, bekam die Armee den Befehl, die Mukata, das Hauptquartier des PLO -Führers Jassir Arafat in Ramallah, zu belagern. In den Tagen darauf wurden alle Gebäude bis auf zwei, in denen sich Arafat mit seinen Ministern und Leibwächtern aufhielt, von Bulldozern zerstört. Die zweite Intifada endete erst im Februar 2005.
© Annett Gröschner
Zehn Jahre nach dem Attentat stehe ich an derselben Stelle gegenüber der Großen Synagoge und warte auf den Bus Nr. 4. Ich kann die Haltestellenschilder nicht entziffern, denn sie sind auf Hebräisch, nur die Nummern zeigen mir an, welcher Bus hier hält. Außer dem 4er gibt es noch die Linien 104 und 204. Unzählige Linien verkehren auf der Allenby, der Hauptverkehrsstraße von Tel Aviv. Dicht an dicht folgen sie aufeinander, auch Kleinbusse sind darunter, die hier Scheruts genannt werden und den Minibussen in Russland, dem Baltikum oder der Türkei ähneln. Die Leute winken sie, am Bordstein stehend, heran wie Taxis und steigen ein, während das Fahrzeug noch rollt. Es ist eine Stunde vor Beginn des Sabbats. Ich nehme den nächsten regulären 4er-Bus.
Ich bin nach Tel Aviv gekommen, weil ich dachte, ich könne nicht über öffentliche Verkehrsmittel in aller Welt schreiben, ohne zu erwähnen, wie gefährdet sie durch individuelle Terrorakte sind. Öffentliche Verkehrsmittel sind die Hauptschlagader einer Stadt; sie transportieren Leute, ohne deren Tätigkeit das öffentliche Leben zum Erliegen käme, Krankenschwestern, Lehrer, Verkäuferinnen, Industriearbeiter, alle, die sich kein eigenes Auto leisten können oder wollen, aber dringend von A nach B müssen. Es sind eng begrenzte öffentliche Räume, wo viele Menschen aufeinandertreffen, die im Allgemeinen unbewaffnet sind, ideale Orte, um als Märtyrer mit wenig Aufwand das maximale an Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Ich habe mir für meine Reise nur die falsche Zeit gewählt. Kurz bevor ich mich auf den Weg nach Israel machte, schrieb mir eine Freundin, dass am Sonntag Schawuot sei, also sowohl am Sabbat als auch am Sonntag der gesamte öffentliche Verkehr
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