Mit der Linie 4 um die Welt
der alten Frau, die jetzt ihren Kranz über die Straße unter die Bäume schleift, unter denen schon der Schlafende liegt.
Die Straßenbahn Nr. 4 kehrt zurück. Auf dem hinteren Wagen steht groß »Mul Lackiercenter«. Die Türen öffnen sich, aber niemand will aus- oder einsteigen. Eine abgeknickte Nelke und die Schraube eines Rücklichts liegen im Staub vor der Haltestelle.
Der Hut der Königin
Thüringerwaldbahn Gotha –Tabarz,
Thüringen
D as Café Waldbahn in Tabarz sieht immer noch so aus wie in meiner frühen Kindheit. Meine Großmutter pflegte nach einem Spaziergang durch den »Luftkurort«, wie sie immer sagte, und diversen Einkäufen im Garten des Cafés ein Kännchen Kaffee zu trinken, ehe wir uns wieder aufmachten nach Reinhardsbrunn. Dort verbrachten meine Großeltern in steter Regelmäßigkeit ihre Urlaube, wie Helmut und Hannelore einst den ihren am Wolfgangsee. Das Wort Luftkurort ist wohl eines der Wörter, derentwegen ich angefangen habe, mich für Sprache zu interessieren. Im Café Waldbahn ist die Zeit um 1969 stehen geblieben. Oder stand sie damals schon still? Auf jeden Fall glaube ich mich an die zwei Biertrinker neben mir zu erinnern. Auch die Biersorte ist dieselbe, und das Rostbrätel wird immer noch mit Bratkartoffeln und ohne übertrieben große Salatbeilage gereicht.
Als ich Claude Simons Roman Die Trambahn las, kam mir der Blick aus dem Garten des Cafés auf die Endhaltestelle der Thüringerwaldbahn in den Sinn – eine Erinnerung, die sich mit dem Text vermischte: »Während die Endstation der Trambahnlinie auf der einen Seite fast mitten in der Stadt lag, so verschwanden dagegen, an ihrem anderen Ende, die verrosteten Schienen wenige Meter nach einem Prellbock unter einer Sandschicht, mit der der Meereswind sie ebenso geduldig und hartnäckig bedeckte, wie der dafür zuständige Angestellte der Verkehrsgesellschaft den Teil freischaufelte, wo sie sich verdoppelten, um es dem Triebwagen zu ermöglichen, sich ans Ende jenes, Baladeuse genannten Beiwagens zu hängen, den er im Sommer hinter sich herzog.« Ich glaubte, dass sich das genau so vor dem Café Waldbahn zugetragen hatte, als es noch keine Wendeschleife gab und an dem Prellbock sich der Staub des Thüringer Waldes sammelte, den der Wind hierhergetragen hatte. Aber ich war mir nicht sicher, ob meine Erinnerung mich nicht trog. Ich war 4 Jahre alt gewesen, als ich das erste Mal mit der Thüringerwaldbahn fuhr. Ein Kind mit weißen, immer rutschenden Kniestrümpfen, das ein Mal zusehen musste, wie der Mantel seines Großvaters in der Kupplung am unteren Heck des letzten Wagens hängen geblieben und die Straßenbahn den Großvater an seinem Mantel ein paar Meter mitgezogen hatte, ehe der Stoff riss. Oder hatte er den Mantel doch noch rechtzeitig vor der Abfahrt aus der Kupplung befreit? Oder war die Großmutter, als sie sah, dass der Großvater mit dem Mantel festhing, schreiend und gestikulierend neben der Bahn entlanggesprungen, um Blickkontakt mit der Schaffnerin aufzunehmen, damit die diese Notbremse zog?
© Annett Gröschner
»Fahr nicht fort, kauf im Ort«, steht an einem Getränkeladen in der Nähe der Wendeschleife Tabarz. Es ist Sommer und kaum jemand auf der Straße, anders als in den siebziger Jahren. Damals war es um diese Jahreszeit so voll im Ort, dass man keinen Platz in den Cafés und auf den Gartenterrassen bekam. Von hier aus begannen, als ich älter war, die Wanderungen mit meinen Eltern auf den 916 Meter hohen Inselsberg, eine Strecke von sechzehn Kilometern, die ich gehasst habe. Einmal gerieten wir auf halber Strecke in ein Gewitter, von allen Seiten schlugen die Blitze ein, Bäume stürzten um, wie Hasen hockten wir in den Bodenkuhlen, Körper an Körper, und ich sah, dass auch meine Eltern Angst kannten. Bis heute hasse ich Wandertage.
Die große Zeit des Luftkurorts ist vorbei, seit die Welt keine Nussschale mehr ist. Nur die Anzahl der Einfamilienhäuser am Hang mit Blick auf den Inselsberg hat zugenommen; mit EU -Mitteln wurden die Straßen und Gehwege erneuert und ein Leitsystem durch den Ort installiert, das an diesem Nachmittag von niemandem abgerufen wird. Menschenleer ist es, einzig vor dem Eiscafé gegenüber der Kreissparkasse sitzen ein paar Familien und verscheuchen die ersten Wespen von der Schlagsahne. Die nächste Waldbahn fährt in zehn Minuten. Die alte Tatra-Bahn T303 wartet schon vor dem gelb gekachelten Bahnhäuschen. Ich steige ein und löse eine Fahrkarte bei der Fahrerin. Als
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