Mit der Linie 4 um die Welt
ich ein Kind war, gab es noch Schaffnerinnen mit Münzkästen vor dem Bauch, aus denen die Frauen mit schnellen Daumenbewegungen das Wechselgeld auslösten und mir in den Handteller legten. Dann klingelte die Bahn ab und tauchte in den Wald ein. Das ist auch heute nicht anders.
Die Thüringerwaldbahn ist eine 4, als Kind habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wo die Linien 1 bis 3 waren. Seit ihrer Eröffnung 1929, nach einunddreißig Jahren Planung, gehört sie zur Straßenbahn Gotha, die insgesamt fünf Linien betreibt. 21,7 Kilometer fährt die Thüringerwaldbahn von Gotha bis Tabarz und zurück, eine Stunde braucht sie für den Weg. Die Hälfte der Strecke geht durch den Wald und über Schluchten und tief eingeschnittene Täler hinweg, an Eichen, Buchen, Kiefern und Fichten vorbei, der Innenraum der Bahn ist dann für eine halbe Stunde in ein zartgrünes Licht getaucht.
Marienglashöhle
An der Marienglashöhle hält die Bahn zum ersten Mal; eineinhalb Kilometer ist sie erst gefahren. Eine Gruppe älterer Leute in bunter Funktionskleidung winkt ab, sie wollen nicht mit. Sie sind heutzutage nicht mehr mit Spazierstöcken oder Knoten, sondern mit schicken Teleskop-Nordic-Walkingstöcken unterwegs. Weil die Strecke eingleisig ist, müssen die Bahnen an den Haltestellen aufeinander warten. Ein Mal in der Stunde fährt die Straßenbahn, in den Hauptverkehrszeiten auch zwei Mal. Man hört sie schon lange vor der Ankunft, weil das Quietschen, fast Kreischen der Bahn in den Kurven oft das einzige, von Menschen gemachte Geräusch ist. An die Marienglashöhle habe ich keine Erinnerung mehr, aber es gibt ein Foto, auf dem ich zwischen hundert anderen Menschen stehe und nach oben zum Fotografen schaue, hinter uns auf einem Gestell die Nummer 325. Das Foto wurde uns nach Hause geschickt, wo es immer noch in einem der Alben klebt.
Friedrichroda
Von der Marienglashöhle bis zum Haltepunkt Friedrichroda ist es nur ein Kilometer. Dann lichtet sich der Wald, und man kann am Hang die alten schiefergedeckten Pensionshäuser des Kurorts bewundern, von denen die wenigsten heute noch Zimmer vermieten. In einer der Gaststätten des Orts hängt noch ein alter Prospekt der Stadt Friedrichroda von 1940, in dem es heißt: »Jeder Gast hat Anspruch auf das Reinigen von 1 Paar Schuhen täglich«, und: »Das Läuten nach dem Zimmermädchen vor 7 Uhr früh und nach 21 Uhr ist nicht zulässig.« 1953 wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit dem Decknamen »Aktion Oberhof« alle Hotels und Pensionen enteignet, um die Bettenzuteilung unter staatliche Kontrolle zu bekommen. Als die Besitzer ihre Häuser nach 1990 wieder zurückbekamen, war Thüringen kein bevorzugtes Urlaubsland mehr. Die Familien steigen nun lieber ins Flugzeug. Nur das ehemalige FDGB -Heim, ein riesiger treppenartiger Plattenbau auf dem höchsten Berg Friedrichrodas, erfreut sich großer Beliebtheit. Man isst dort nach wie vor in einem imposanten Speisesaal und braucht die Anlage nicht zu verlassen, weil es alles gibt: Schwimmbad, Spielplatz, Trimm-dich-Pfad und Kosmetikerin. Für wenig Geld kann man in den unteren Etagen eine Reise in die Vergangenheit mieten – Zimmer in DDR -Standard, mit alten Plastearmaturen und rosa Kacheln im Bad. Es riecht sogar noch nach Osten, und auf den leeren Hotelfluren bekommt man am Abend ein »Shining -Gefühl«, auch im Sommer. Warum steht die Zimmertür auf, die hat man doch eigenhändig abgeschlossen? Ist das da Blut auf dem Fußboden?
Von dort oben gelangt man in zehn Minuten durch den Wald zur Haltestelle Reinhardsbrunn.
Reinhardsbrunn
Reinhardsbrunn ist ein Schloss, von dem nur noch die entkernte Fassade und jede Menge Mythen übrig geblieben sind. Es sieht von Weitem uralt aus, ist aber ein neogotischer Bau, der 1828 auf den Grundmauern eines Klosters errichtet wurde und den Herzögen von Sachsen-Coburg und Gotha als Jagd- und Lustschloss diente. Den siebzehn Kilometer entfernten Familienstammsitz in Gotha kann man heute in einer Dreiviertelstunde mit der Thüringerwaldbahn erreichen. Wenn die rot-weiße Fahne Thüringens über dem Jagdschloss aufgezogen wurde, kamen Kutschen mit den Wappen verschiedenster europäischer Herzogtümer vorgefahren. Es waren die Kinder und Kindeskinder des Herzogs Ernst I. von Sachsen-Coburg und Gotha, der wegen seiner nachhaltigen Politik, er verheiratete seine Nachkommenschaft in alle Himmelsrichtungen, bis heute »Schwiegervater Europas« genannt wird, einen Titel, den er sich allerdings mit
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