Mit der Linie 4 um die Welt
Verkehrsmittel in der Schweiz viel stärker auch von den Menschen genutzt, die sich anderswo auf der Welt hinter dicken Panzerglasscheiben großer Limousinen oder Edelgeländewagen verschanzen. Das Schweizer System der öffentlichen Verkehrsmittel ist eines der effektivsten und besten der Welt und gemessen an den sonstigen Lebenshaltungskosten zumindest im Abonnement relativ preiswert. Unmittelbar neben dem Odeon, in dem man natürlich auch für den Mythos des hundertjährigen Künstler-, Bohème- und Revoluzzercafés bezahlt – schließlich haben sich hier schon Lenin, James Joyce, Stefan Zweig und Else Lasker-Schüler aus Geldmangel den ganzen Abend über an einem Kaffee festgehalten –, ist die berühmte Haltestelle Bellevue. Das geschwungene Dach, unter dem Hunderte Menschen Platz haben, beweist, wie zeitlos schön die Moderne sein kann. Hier hält die 4, auf Schwyzerdütsch ’s Vieritram, eine von sieben Linien, die sich am Bellevue-Platz als einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt treffen. Er ist zugleich das Herz und der Ursprung der Zürcher Tram. Die erste Pferdebahnlinie, eine Privatbahn, Rösslitram genannt, fuhr am 5. September 1882. Allerdings konnten nur die Teile Zürichs an das Netz angeschlossen werden, die in der Ebene lagen, denn die Pferde schafften mit den schweren Wagen die Steigungen nicht. 1894 fuhr die erste elektrische Bahn, ein Jahr später gab es schon hundertundacht Kilometer elektrifizierte Strecke. 1896 wurde die Städtische Straßenbahn Zürich, ein Kommunalbetrieb, eröffnet, der nach und nach die privaten Strecken übernahm. Zürich war die erste Stadt in Europa, die ihre Straßenbahn kommunalisierte, und obwohl die Stadt der Inbegriff des Kapitalismus ist, hat sie das nie revidiert. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verfolgte sie aber eine durchaus clevere Politik. Sie ließ unrentable Nebenstrecken von privaten Investoren bauen und kaufte sie später auf. Erst 1905 wurden die Straßenbahnlinien nummeriert, vorher hatte jede eine Farbe, die 4 war violett. Diesen den Linien zugeordneten Farbcode gibt es bis heute, auf den Haltestellenschildern und in den Plänen ist die 4 immer noch violett. Anfangs ging ihre Linienführung nicht über Bellevue, sie begann am Hauptbahnhof und fuhr in westliche Richtung bis zum Escher-Wyss-Platz, ihre bis heute existierende Strecke durch das Industriequartier, aber dann weiter bis zur Wipkinger Brücke, wo sie an die elektrische Straßenbahn nach Höngg anschloss. Die Strecke vom Hauptbahnhof nach Tiefenbrunn wurde von der 1, der weißen Linie, bedient. 1924 wurde die Streckenführung verändert. Die 4 fuhr seitdem von Tiefenbrunn über den Hauptbahnhof in Richtung Westen über den Escher-Wyss-Platz bis Sportplatz Hardturm. Das blieb so bis zum 11. Dezember 2011.
»I muss uf die Vierer«, sagt man in Zürich. Karin und ich steigen am nächsten Morgen am Bellevue in die Bahn Richtung Tiefenbrunn. Karin ist in Zürich geboren und seit ihrer Kindheit Trambahnnutzerin, sie wird mich begleiten. Wir überlegen, ob wir uns für eine Stelle als Straßenbahnfahrerin bewerben sollten. Weil ihr Anteil bei einundzwanzig Prozent stagniert, werben die Verkehrsbetriebe Zürich auf großen blauen Schildern am Bellevue-Platz um Trambahnführerinnen, auf wesentlich kleineren Anzeigen werden auch qualifizierte Männer gesucht. »Sie sind zuverlässig, fit, haben gute Umgangsformen und behalten auch im hektischen Stadtverkehr stets die Übersicht. Zudem schätzen Sie unregelmäßige Arbeitszeiten.« Das trifft durchaus auf uns zu. Versprochen wird dieselbe Bezahlung wie für männliche Fahrer, eine »gesunde Pensionskasse« und freie Fahrt in der ganzen Schweiz. Das wäre eine Überlegung wert, aber natürlich nur auf der 4. Vorerst belassen wir es beim Fahrgastsein. Ich kaufe eine Tageskarte am Automaten.
© Annett Gröschner
Bellevue ist mehr als die Tramstation auf dem Bellevue-Platz, es umfasst das ganze Areal zwischen Theaterstraße und Sechseläutenwiese und vom Opernhaus bis vor den Bahnhof Stadelhofen auf der anderen Seite, wo die S-Bahnen halten, die am Morgen die Pendler von den Hängen und Bergen rund um den Zürichsee in die Innenstadt hinunterbringen.
Eigentlich fährt die 4 parallel zum Seeufer, aber das kann man von der Straßenbahn aus nicht sehen, weil noch zwei Straßen zwischen Schienen und Ufer sind und die Häuser der rechten Seite den Blick auf den See verdecken. Die Blickachse zum Opernhaus ist durch einen hohen Bauzaun
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