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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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im Futur II
    Astana, Kasachstan
    D ie kasachische Eisenbahn hält seit 1929 an einem Bahnhof in einer Stadt inmitten der Sary-Arka, der Großen Steppe; seit 1998 wird diese Stadt offiziell Astana genannt.
    Die meisten Mitteleuropäer denken, wenn sie den Namen Astana hören, an ein Radsportteam, das sich bei der Tour de France vor allem durch die Einnahme illegaler leistungsfördernder Mittel einen Namen gemacht hat. Einer der Sponsoren des Teams Astana ist die kasachische Eisenbahn. Im Gegensatz zum Flughafen Rosa Flamingo hat der Bahnhof schon gestanden, als die Stadt noch Akmolinsk hieß und kaum mehr als ein Eisenbahnknotenpunkt in der Steppe war. 1911 hatte die Stadt laut Brockhaus nicht mehr als 8750 Einwohner. Astana bedeutet auf Kasachisch nichts weiter als Hauptstadt, so wie auch Washington in den Anfangszeiten schlicht Federal City genannt wurde. Das kasachische Parlament hatte vorgeschlagen, die Stadt nach seinem weisen Führer Nursultan Nasarbajew zu benennen, aber der lehnte das Ansinnen bescheiden ab. 1998 hat Astana Almaty als Hauptstadt Kasachstans abgelöst. Anders als Planhauptstädte wie Brasilia oder Neu-Delhi, die gänzlich auf dem Reißbrett entstanden sind, ist die neue Hauptstadt Kasachstans ein halb künstliches Gebilde.
    Auf dem Bahnhof haben sich Familien auf Tischen, Stühlen und dem Fußboden ausgebreitet und ihren Proviant ausgepackt: harte Eier, Piroggen, Tee und Schnaps. Ihre zahlreichen Stoffkoffer, im östlichen Mitteleuropa Russenkoffer genannt, sind um sie herumgruppiert. Wie die weißen Plastestühle sind die Russenkoffer Erfindungen, die unter den Armen der Welt einen globalen Siegeszug angetreten haben. Geht einer kaputt, kauft man beim nächstbesten fliegenden Händler einen neuen. Man kann ihn mit Klebeband verstärken, sodass er aussieht wie ein Steckkissen. Und man kann Räder unter ihm befestigen, dann ist es ein Rollkoffer, der zwar nicht schmückt, aber seinen Zweck erfüllt.

© Annett Gröschner

Wer von hier abfährt, hat eine lange Reise vor sich. Die Züge fahren nach Almaty, Jekaterinburg und Karaganda, dessen Name immer noch Gänsehaut hervorruft, waren doch dort die großen Lager der Stalin-Zeit. Auch Akmolinsk wurde von Deportierten erbaut, Kaukasiern, Ukrainern und Deutschen. Wenige Kilometer entfernt, befand sich das Lager der Ehefrauen der angeblichen Vaterlandsverräter. Es gibt auch eine Kurswagenverbindung von hier nach Berlin. Man könnte um 22.55 Uhr in den Zug nach Omsk einsteigen, von dort am Dienstag um 11 Uhr mit der Transsibirischen Eisenbahn Richtung Moskau, am Donnerstag um 5.44 Uhr auf dem Kasaner Bahnhof in Moskau ankommen, mit der Metro zum Belorussischen Bahnhof fahren, dort um 8 Uhr den Zug nach Berlin nehmen, um am folgenden Tag, nach dreiundachtzig Stunden Fahrt, um 9 Uhr am Berliner Hauptbahnhof zu stehen.
    Wer beim Umsteigen länger auf den Anschlusszug warten muss, kann sich die Zeit an Daddelautomaten oder, eine eher kasachische Angelegenheit, an einem Schießstand im Keller des Bahnhofs vertreiben. Für 50 Tenge darf man mit scheinbar echten Kalaschnikows auf neckisch bunte Ziele schießen. Es riecht nach scharfem Reinigungsmittel. Fünf Männer in der taubenblauen Uniform der kasachischen Eisenbahn mit riesigen Tschapkas laufen wie im Gleichschritt in Richtung Bushaltestelle. Ich folge ihnen und warte auf den Trolleybus der Linie 4. Wie lange es dauert, ist nicht vorherzusagen, einen Fahrplan gibt es nicht, zu viele Unwägbarkeiten liegen auf dem Weg.
    Es gibt zwei Astanas. Auf der nördlichen Uferseite des Flusses Ischim, auf dem die Linie 4 verkehrt, ist es ein Ort wie viele im ehemaligen sowjetischen Imperium, in Rajons und Mikrorajons aufgeteilte Wohngebiete mit einer schlecht, aber irgendwie doch funktionierenden Infrastruktur. Von 1961 bis 1991 hieß dieser Teil der Stadt Zelinograd. In ihr lebt es sich mit Provisorien. Über die überirdisch angelegten Gas- oder Wasserleitungen hat man kleine, grob verschweißte Treppen gebaut. Die Löcher in den Gehwegen sind so groß und tief, dass kleine Kinder darin verschwinden könnten.
    Das andere Astana liegt südlich des Ischim, ein Entwurf, der dem Kopf des Präsidenten Nursultan Nasarbajew entstammt, locker hingeworfen in die Steppe Asiens. Diese neue Stadt entsteht seit 1998, als Astana Regierungssitz wurde. Im Zentrum steht der Bajterek-Turm, von dem aus man sich, wenn man schwindelfrei ist, denn er schwankt im Steppenwind, einen guten Überblick über dieses künstliche Astana

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