Mit der Linie 4 um die Welt
Tränen, die umgehend auf der Haut gefrieren. Man stemmt sich gegen den Wind, aber es ist wie in einem Traum, bei dem man nicht vom Fleck kommt, sosehr man sich auch anstrengt. Astana ist nach Ulan Bator die zweitkälteste Hauptstadt der Welt.
Vom Bus aus sieht es sehr gefährlich, ja, eigentlich todesmutig aus, wenn Fußgänger die Straße des Sieges überqueren, denn die Ampel schaltet schon auf der Mitte wieder auf Rot und die Autos, oft alte Fahrzeuge aus Westeuropa am vorletzten Ort der Verwertungskette und mit abgefahrenen Sommerreifen, fahren sofort los, ohne darauf zu achten, ob ihre Ampel schon grün ist. Die armen Fußgänger stehen dann mitten im Verkehr und müssen warten, bis sie wieder Grün haben. Dann schlittern sie, so schnell es geht, über die ungestreute Straße. Auch der Trolleybus gerät oft ins Rutschen auf den breiten Straßen, die bei Schnee keine erkennbare Spurmarkierung haben. Der Schaffner läuft dann Gefahr, durch den Bus zu fliegen, falls er nicht von den Körpern der Stehenden aufgefangen wird. Schaffner in Astana zu sein, heißt, sich gut Gesichter merken können zu müssen, um im überfüllten Bus auch wirklich alle abzukassieren. Das System der öffentlichen Verkehrsmittel ist eines der härtesten der Welt. Pro Schicht fahren ein Fahrer und ein Schaffner im Gespann auf eigene Rechnung als eine Art Franchising. Sie teilen sich mit zwei anderen Tandems einen Bus, den sie bei der städtischen Busgesellschaft pachten. Sollte das Fahrzeug kaputtgehen, übernimmt das Unternehmen die Reparatur, aber das Gespann, das nur das Geld für die Fahrscheine verdient, kann in dieser Zeit nicht fahren. Der Fahrscheinpreis ist subventioniert, die Subvention allerdings bekommt die städtische Busgesellschaft. Weil der Verdienst von der Zahl der Fahrgäste abhängt, gibt es begehrte, also von vielen genutzte, und schlechte Strecken. Zu Letzteren gehört auch die Linie 4, die nur wenige Fahrgäste hat. Der Trolleybus der Linie 6 dagegen, der hinter dem 4er hält, ist so voll, dass die Einkaufsbeutel der zuletzt Zugestiegenen aus der geschlossenen Tür baumeln und bis zur nächsten Haltestelle draußen mitfahren.
Strafen für Schwarzfahrer, die Hasen genannt werden, sind nicht üblich. Wer nicht zahlt, wird an der nächsten Station hinausgeworfen. Leute, die sowieso nur eine Haltestelle fahren wollen, lassen es meist drauf ankommen, wie der Hip-Hop-Typ, der schon auf dem Sprung stehend von der Schaffnerin wüst beschimpft wird und auf Durchzug schaltet, indem er seine Kopfhörer geraderückt. Die Schaffnerin lässt den Fahrer mitten im Nichts halten und wirft den Schwarzfahrer hinaus. Weil die Stadt über eine riesige Fläche verteilt ist, sind die Abstände zwischen den Haltestellen manchmal sehr groß, vor allem am Flüsschen Ak-Bulak, das wir gerade überqueren.
Hinter der Brücke passiert die 4 eine Holzhaussiedlung aus der Revolutionszeit, bebaut mit schiefen Häuschen, in denen vor allem Bauarbeiter, viele aus der Türkei, leben. Langfristig soll sie dem Erdboden gleichgemacht werden. Man ist hier schnell mit dem Abriss. Am Horizont sind schon die Kräne zu sehen, die ein neues Wohngebiet errichten werden. Ein Gedächtnis hat die Stadt nicht. Sie lebt in der Zukunft.
Der junge Mann, der wie das Klischee eines Bourgeois auf dem Weg vom Business nach Hause aussieht, kaut schon drei Haltestellen an seinem Strohhalm, der aus einer Kakaoverpackung ragt. Als die Schaffnerin ihn auffordert, den Fahrschein zu bezahlen, lässt er das Geld wie mit Absicht fallen. Die Schaffnerin muss sich danach bücken, und aus Rache behauptet sie, kein Wechselgeld zu haben. Der junge Mann straft sie mit Missachtung. Es ist verwunderlich, dass er den Bus nimmt. Eigentlich fährt man per Anhalter, wenn man Geld und kein eigenes Auto hat. Man hält einen Wagen an, vereinbart mit dem Fahrer beim Einsteigen einen Preis, und der fährt, wohin man will. Manchmal nimmt er unterwegs noch andere Leute mit, auch über die Zahl der zugelassenen Insassen hinaus.
Irgendwie kommt man immer an in Astana. Auch der Trolleybus 4 erreicht die Endstation. Hier stehen Plattenbauten aus den achtziger Jahren. Hinter ihnen geht eine knallrote Sonne über der Steppe unter, so schön, dass man weinen möchte.
Ost-West-Ring
Berlin, Hauptstadt
der Bundesrepublik Deutschland
N atürlich gibt es eine 4 in Berlin. Und es ist sogar eine Straßenbahn. Tag und Nacht fährt sie hundert Meter von meinem Eckfenster entfernt zwischen Hackeschem Markt in
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