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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Mitte und dem Plattenbaugebiet Hohenschönhausen hin und her. Ich renne ihr oft nach, um den Anschluss an die Welt nicht zu verpassen. Ich wäre schon mehrfach fast von ihr zermalmt worden, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit an einen der ungesicherten Übergänge der Greifswalder Straße heranraste und ich gerade verträumt mit dem Fahrrad auf den Schienen stand. Einen besseren Tod gäbe es für eine Autorin, die Geschichten über die Linie 4 schreibt, eigentlich nicht. Ich könnte mir die Presseerklärung sogar selbst verfassen: »Mit der Linie 4 aus der Welt. Eine Unachtsamkeit hat eine Berliner Autorin (48) am Nachmittag gegen 16.15 Uhr das Leben gekostet. An der Greifswalder Straße in Höhe der Christburger Straße auf den Schienen stehend, wurde sie von einer Tram der Linie M4 erfasst und starb noch am Unfallort. Zuletzt erschien ihr Buch Mit der Linie 4 um die Welt .«
    Ich mag die Metrolinie M4 nicht, vielleicht weil sie mir so vertraut ist. Die 4 ist für mich eine andere. Die 4 ist das, was als 4 bis 1993 existierte und dann als 20 elf Jahre lang fuhr, um mit der Einführung des Metroliniensystems ab Dezember 2004 als M10 eine der wichtigsten Nachtverbindungen in Sachen Berlin als Partystadt zu werden. In den zwanziger und dreißiger Jahren war sie eine von mehreren Ringlinien, Ost-West-Linie genannt. Und das ist sie noch heute, wenn sie auch nur noch ein Viertel des alten Ringes abfährt.

© Arwed Messmer

1925 schrieb der damals sechsundzwanzigjährige, in Berlin im Exil lebende Schriftsteller Vladimir Nabokov über die Berliner Straßenbahn: »Die Straßenbahn wird in etwa zwanzig Jahren verschwinden, wie die Pferdebahn verschwunden ist. Für mein Gefühl hat sie schon jetzt etwas Überlebtes, eine Art altmodischen Charme. Alles an ihr ist ein wenig ungefüge und klapperig, und wenn sie eine Kurve etwas zu schnell nimmt und die Stromstange vom Fahrdraht springt und der Schaffner oder sogar einer der Fahrgäste sich am Heck des Wagens hinauslehnt, nach oben späht und an der Schnur ruckelt, bis die Rolle wieder Kontakt hat, dann denke ich jedes Mal daran, wie auch dem Kutscher in früheren Zeiten manchmal die Peitsche aus der Hand gefallen sein muss …«
    Fast neunzig Jahre später gibt es immer noch 293 Straßenbahnkilometer in Berlin, 286 davon im Osten der Stadt, in Westberlin hat man die letzte Straßenbahn 1967 feierlich zu Grabe getragen, nachdem seit 1954 275 Kilometer stillgelegt worden waren. Der Autoverkehr hatte gesiegt. Die Renaissance als Tram in den neunziger Jahren schlägt sich in bisher 6,4 Kilometern auf ehemals Westberliner Gebiet nieder, 1,3 Kilometer davon auf der alten Linie 4.
    Zu der Zeit, als Nabokov seine negative Zukunftsperspektive entwarf, fuhr die 4 als Ost-West-Ring im Kreis, 26,1 Kilometer, durch alle Gründerzeitviertel der Berliner Innenstadt: durch Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Wedding, Moabit, Tiergarten, Schöneberg, Neukölln und Kreuzberg zurück nach Friedrichshain, eine von neun Ringlinien. Hundertzwanzig Minuten brauchte sie für eine Runde, 1937 waren es nur noch hundertfünf. 1939 wurde sie in einen Ost- und einen Westteil aufgeschnitten. Erkennungszeichen außer der Nummer war ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift.
    Ich bin diesen Ost-West-Ring mehrmals abgefahren, immer entgegen der Uhrzeigerrichtung, mit dem Fahrrad oder mit den Straßenbahn-, Bus- und U-Bahnlinien, die die 4 auf einzelnen Streckenabschnitten ersetzt haben: Straßenbahn M10, Bus 247, Bus M27, Bus 142, U-Bahnlinie 9, Bus 106, Bus M29, Bus M41, Bus 194, einen Kilometer zu Fuß gehen, U-Bahnlinie 1, dann wieder M10. Dafür braucht man im Berufsverkehr hundertfünfzig Minuten. Mit dem Fahrrad, in bedächtigem Tempo und mit kurzen Unterbrechungen, ist man sonntags hundertachtzig Minuten unterwegs in immer wieder fremden Städten, die alle den Namen Berlin tragen.
    Kilometer 1 bis 4: S- und U-Bahnhof Warschauer Straße bis Arnswalder Platz
    Eine Ringlinie hat keinen Anfang und kein Ende. Wo fange ich an? In den Fahrplanbüchern der zwanziger und dreißiger Jahre ist die Wiener Straße in Kreuzberg die erste Haltestelle, die genannt wird und an der der Ring sich schließt. In anderen Quellen ist es der Hermannplatz, dann: Weserstr. – Friedelstr. – Grünauer Str. – Görlitzer Bf. – Wiener Str. – Görlitzer Ufer – Wrangelstr. – Falckensteinstr. – Schlesisches Tor – Oberbaum Brücke – Warschauer Brücke – Warschauer Str. – Baltenplatz – Petersburger Str. – Elbinger

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