Mit der Linie 4 um die Welt
verschaffen kann. Von oben scheint es, als hätten alle angesagten Architekten der Welt auf dem Weg zwischen Dubai und China im neuen Astana Gebäude abgeworfen, die alle ein wenig zu groß geraten sind. Von Lord Norman Foster zum Beispiel stammt eine siebenundsiebzig Meter hohe Pyramide des Friedens. Es gibt ein neues Diplomatenviertel und gleich daneben einen architektonischen Themenpark mit Gebäuden aus allen ehemaligen Sowjetrepubliken, drei Mal so groß wie die Originale und scheußlicher als alles, was an Disneylands auf der Welt so steht. Gegen das Weiße Haus des kasachischen Präsidenten wirkt das Vorbild in Washington wie Onkel Toms Hütte. Überhaupt denkt man hier in Megatonnen, und die Bodenschätze machte man in der jüngsten Vergangenheit zu vielen Petrodollars, von denen einige in die Taschen der Familie des seit 1990 regierenden Präsidenten flossen, die lebenslange Immunität vor Strafverfolgung genießen.
Von dort oben sieht das alte Zelinograd-Astana, wo die 4 ihre Runden dreht, aus wie ein unvernünftiges, unvollendetes, weil von Menschen geschaffenes Gebilde, ein Dreckfleck, während das neue Astana nicht von dieser Welt scheint, sondern vom gottgleichen Präsidenten persönlich errichtet, der ja bekanntlich nicht zimperlich mit seinen Gegnern umgeht. Oben auf dem Turm ist die Hand des Präsidenten in Gold und Glas, und man wird aufgefordert, die eigene in die des Präsidenten zu legen, um ihn zu begrüßen, da oben, unter dem Himmel. Ich drücke mich mit Erfolg.
Zwischen den einzelnen Wolkenkratzern ist viel Platz, und wenn im Winter die Steppenwinde wehen, gelingt es kaum, von einem zum anderen zu gehen. 2030 soll das künstliche Gebilde fertig sein. Man betoniert hier auch bei zweistelligen Minustemperaturen. Das neue Astana ist eine Stadt im Futur II, die Häuser sehen schon alt aus, ehe sie überhaupt bezogen sind.
Die Trolleybuslinie 4 hat mit dem Mega-Astana nichts zu tun. Sie verkehrt zwischen dem Bahnhof, dem alten Zelinograder Zentrum und einer Satellitenstadt am Rand der Steppe. Ein zitronengelber Bus hält an, der halb in kyrillischen, halb in lateinischen Buchstaben für Lipton-Tee wirbt. Eine ältere Schaffnerin verkauft für 45 Tenge einen blau bedruckten Fahrschein mit Folkloremotiv. Der Bus kurvt in weitem Bogen um ein ärmliches Wohngebiet entlang der Bahnlinie, der ehemaligen Eisenbahnsiedlung, und kommt am Kasachischen Nationalen Akademietheater für Musik wieder heraus, wo die großen westeuropäischen Opern und Ballette so vom Blatt gespielt werden, dass Hasser des Regietheaters voll auf ihre Kosten kommen. Auf der Linie 4 fährt auch die berühmteste Trolleybusfahrerin Astanas, Aleftina Schiwowa, eine heimliche Künstlerin, die jedes Jahr zum Neujahrsfest den Innenraum ihres Busses in eine Winterlandschaft mit Silvesterglitter und Jolkabaum verwandelt. Zu Sowjetzeiten hat sie den Malutki gefahren, einen Trolleybus, der nur Kinder transportierte. Da verkleidete sie sich manchmal als Schneewittchen und tanzte an der Endhaltestelle mit den Kindern.
Der Bus biegt in die Straße des Sieges ein, die Hauptachse des alten Astana. 1960 wurde Akmolinsk zum Zentrum der Neulandbewegung ernannt und bekam im Mai 1961 den Namen Zelinograd, zu Deutsch Neulandstadt. Chruschtschow wollte die Steppe urbar machen und Flüsse umleiten. Kasachstan sollte die zweite Kornkammer der Sowjetunion werden. Das Experiment scheiterte bald, die Stadt wurde trotzdem gebaut. Das Leningrader Institut für Stadtplanung erarbeitete 1962 einen Generalbebauungsplan, der die Stadt in drei Zonen einteilte: Wohnen, Arbeiten und sich Erholen. Wir fahren entlang der Hauptstraße durch Wohnen, und dort bleiben wir auch bis zur Endhaltestelle, vorbei an dünnwandigen zweistöckigen Bauten aus den fünfziger Jahren, hinter denen Hochhäuser und die Chruschtschowkas genannten Plattenbauten der sechziger Jahre stehen.
Astana mit seinen 626 000 Einwohnern, das in den vergangenen Jahren viel zu schnell gewachsen ist, steht jeden Tag vor dem Verkehrskollaps. Es gibt keine U-Bahn und keine Straßenbahn, nur Busse, Trolleybusse und die Marschrutkas, enge Kleinbusse, in denen man, wenn die Sitzplätze nicht reichen, hinter dem Fahrer auf Teppichen kauert, und in denen bei Kälte die Scheiben beschlagen, sodass man nach drei Haltestellen nicht mehr weiß, wo man ist. An der falschen Stelle auszusteigen, kann heißen, plötzlich mitten in der Steppe zu stehen. Der Ostwind krallt sich sofort ins Gesicht und rührt zu
Weitere Kostenlose Bücher