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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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sich eine Binde über den Arm, wenn neue Fahrgäste hinzukommen und keinen Fahrschein entwerten. Die orangefarbenen Fahrscheine sind schmal, eher Schnipsel, die in einen Entwerter gesteckt werden müssen, was ein unangenehmes Geräusch macht. Der Jagdtrieb des Kontrolleurs bleibt unbefriedigt. Alle haben ein gültiges Ticket. Die meisten Leute stehen mit Tüten und Taschen behängt in der Bahn, sie kehren aus den Einkaufsstraßen, in denen immer noch die kleinen Geschäfte dominieren, nach Hause zurück. Um 18 Uhr schließen die Läden. Noch sind die Straßen prächtig, aber hinter dem Rákóczi tér wird die Gegend ärmer, die Farbe blättert von den Fassaden ab, und die Leute, die nun zusteigen, sind schlechter gekleidet. Sie tragen auch nicht so viele Einkaufstüten mit sich herum.
    Es gibt viele Geschichten über die 4, die an fast jedem großen Kreuzungspunkt vorbeikommt. Und Geschichten, die in ihr stattgefunden haben. Der Budapester Philosophieprofessor Endre Kiss hat eine erzählt: Als er klein war, mussten seine Mutter und er am Wochenende am Boráros-Platz umsteigen, um auf die Insel Csepel zu gelangen. Dort, beim Csepel SC, einem Arbeitersportverein, spielte seine Mutter Tennis, diesen bourgeoisen Sport, während der Vater als politischer Gefangener im Gefängnis saß. Das passte nicht zusammen und war vielleicht auch nur in Ungarn möglich. Auch Peter Jung war zeit seines Lebens mit dem Csepel SC verbunden: »Ich habe mir in Ungarn den FC Csepel als Lieblingsmannschaft ausgesucht, sie waren ausgezeichnet in der Zeit. Csepel ist eine Industrieinsel in der Donau. Damals spielten im Verein nur Leute, die auf der Insel wohnten oder arbeiteten, da wurden nicht Spieler von anderswo angeheuert.« Zwei Jahre vor Peter Jungs Tod 2004 wurde die Fußballabteilung des Csepel SC aufgelöst. Das bestätigte eine These seines Vaters, dass das Auf und Ab seiner Lieblingsmannschaft eng mit dem Auf und Ab in seinem eigenen Leben zusammenhing.
    Am Boráros-Platz kreuzt die 4 zum zweiten Mal die Linie 2. Die ist die schönste und zugleich eine der kürzesten Straßenbahnlinien Budapests. Wie eine Diagonale verbindet sie zwei Punkte des Großen Rings. Sie fährt am Donaukai, zwischen Margareten- und Közvágóbrücke entlang und streift fast alle wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. In der Nacht sind die Burg und der Gellért-Berg, das Jugendstilgebäude des Gresham-Palasts, die Brücken und das Parlament hell erleuchtet. Bis vergangene Woche soll das Hochwasser der Donau noch bis zu den Gleisen gestanden haben. Das erzählt mir Agotha, die ich aus Zürich kenne und zufällig in Budapest getroffen habe. Sie und ihr Mann haben in der Schweiz ihr Glück gesucht und gefunden. Aber sie haben noch eine Wohnung in Budapest, und wenn die Sehnsucht nach Ungarn zu groß wird, fahren sie nach Budapest, steigen in die 2 und sind glücklich.
    Hinter dem Boráros-Platz passiert die 4 die Petőfi híd. Bevor die Brücke 1937 fertiggestellt wurde, hatten viele Linien auf der Pester Seite ihre Endhaltestelle. Es wird schon dunkel, die Peitschenlaternen der Uferstraßen leuchten wie kleine Perlen. Dann Goldmann György tér. Ein altes Paar steigt aus. Sie schwankt, er ist ungeduldig, und es sieht aus, als wollte er sie am liebsten aus der Bahn stoßen. Aber sie ist auf der Hut, klammert sich an den Haltegriffen fest und lässt sich auf die Stufen fallen. Die alten Bahnen sind nicht besonders invaliden- und seniorenfreundlich, aber Menschen ab fünfundsechzig fahren in den öffentlichen Verkehrsmitteln nach wie vor kostenlos. Rechter Hand ist der Campus der Technischen Universität. An der nächsten Haltestelle trennt sich die Linie 6 zum ersten und einzigen Mal von der Linie 4 für zwei Haltestellen. Die 4 fährt weiter geradeaus, die Irinyi-József-Straße entlang bis zu ihrem Endpunkt an der Fehérvári-Straße.
    Die Endhaltestelle ist nicht mehr als eine Ansammlung von Wohnhäusern, meist Plattenbauten und ein Einkaufszentrum. Die Bahn ist seit zwei Haltestellen für Budapester Verhältnisse ungewöhnlich leer. Ich bin 8,6 Kilometer gefahren und habe ungefähr eine halbe Stunde gebraucht. Ich frage mich, warum mindestens die Hälfte aller Linien 4, die ich bisher auf der Welt gefahren bin, an Shopping Malls endet (die andere Hälfte fängt an Bahnhöfen an). Und wie überall auf der Welt werden diese Einkaufsparadiese von den immer gleichen Marken beherrscht, sodass es, wüsste man nicht, in welchem Land man sich befände, schwierig

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