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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Constitution in die Zange, einen Platz, auf dem es so geschäftig zugeht wie auf den Vorplätzen osteuropäischer Busbahnhöfe, denn von hier aus fahren etliche Buslinien in das Weichbild der Stadt. Die Leute warten in langen Schlangen, zwischen ihnen fliegende Händler, die Getränke, Eis und Schnürsenkel anbieten. Wie auf der Plaza San Martín sitzen auch hier Liebespaare auf den Steinbänken und Rasenflächen, nur sind sie ärmer gekleidet und weniger europäisch, und auch der Platz mit seinen auf Asphalt stehenden Schaukeln ist verkommen. Geküsst wird hier wie dort sehr heftig.
    Es gibt auffällig viele Schwangere in Buenos Aires, die ihre Bäuche fast majestätisch vor sich hertragen. Überhaupt die Frauen. Sie schweben in hochhackigen Schuhen über die kaputten Bürgersteige, ähnlich den Frauen in russischen oder polnischen Städten. Es gibt eine Seite der Globalisierung, die weiblich ist und Chancen verspricht. Bei aller Anmut aber ist nicht zu übersehen, dass an der Plaza Constitution die Armut wie ein Geschwür aus der Fassade der Stadt platzt.
    Der Bahnhof Constitution ist der zweitgrößte neben dem Hauptbahnhof Retiro. Im Moment wird er renoviert, von Weitem sieht es eher nach Abriss aus. In der Bahnhofshalle stehen schwer bewaffnete Uniformierte. Lange Schlangen sammeln sich vor den Schaltern. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Kuchen.
    »Zu beiden Seiten des Zuges löste die Stadt sich in Vororte auf«, heißt es bei Borges in Der Süden . Bis zu den Vororten ist noch ein wenig Zeit, der Bus hat erst ein Drittel seiner Strecke zurückgelegt und noch zehn Barrios vor sich. Die Avenida Juan de Garay ist eine der wichtigsten Straßen im Süden der Stadt. Garay war 1580 der zweite, glücklichere Gründer der Stadt, nachdem die ersten Eroberer unter dem Kommando von Pedro de Mendoza 1536 an ihrer schlechten Ausrüstung und dem sumpfigen Gelände scheiterten, begleitet von dem deutschen Chronisten Ulrich Schmidl, der auch von Kannibalismus der verhungernden Spanier berichtete.
    In der Garay wohnt Beatriz Viterbo, die Unnahbare aus der Borges’schen Erzählung Das Aleph . Die Gegend ist keine schöne, und Emilio Miler, der mich auf einem meiner Streifzüge begleitet, rät davon ab, aus dem Bus zu steigen. Mit Alejandra López, einer anderen Stadtführerin, gehe ich dagegen an einem Sonntag auf der Avenida Garay spazieren. Die eine oder andere Königin der Nacht kommt aus ihrer Höhle hervor und überquert die Straße, in der es von Stundenhotels, sogenannten Albergues Transitorios, wimmelt, die Namen wie Hotel Autopista tragen. An den Straßenrändern stehen Autos, die aussehen, als würden sie keinen Meter weit mehr kommen, aber das ist nur eine Täuschung. Die einzigen, die sich nicht mehr fortbewegen können, sind die Autos, denen die Räder fehlen. Anders als in der Innenstadt, wo er sich durch die schmalen Einbahnstraßen quälen muss, eingezwängt zwischen den gelb-schwarzen Taxis, die sich wie Hornissenschwärme in den Verkehr stürzen, kann der Bus hier zügig über die breite Allee fahren, ohne Rücksicht auf irgendwelche Ampeln oder Zebrastreifen. Die rote Ampel ist in ganz Buenos Aires nur eine Empfehlung, an die sich auch Busfahrer nicht unbedingt halten.
    Drei Haltestellen weiter öffnet sich die Straßenflucht zugunsten eines riesigen namenlosen Platzes vor dem Nationalen Kinderhospital. Gleich dahinter befand sich das inzwischen geschlossene Caseros-Gefängnis, an das sich Emilio noch sehr gut erinnert, denn sein Vater saß 1977 während der Militärdiktatur wegen der Veröffentlichung eines Kinderbuches hier, seine Mutter in einem Frauengefängnis. Das Gefängnis schützte seine Eltern vor dem Verschwinden. Freigelassen wurden sie mithilfe ausländischer Freunde. Das französische Fernsehen drohte damals, die Rechte für die Übertragung der Fußball-WM 1978 in Argentinien nicht zu kaufen, sollten politische Gefangene nicht entlassen werden. Emilio ging mit seinen Eltern ins venezolanische Exil wie so viele andere. Die Vergangenheit ist nicht tot, aber vor dem oberflächlichen Beobachter hält sie sich versteckt. Wie soll man der vielen Toten der Militärdiktatur in dieser Stadt erinnern, ohne beliebig zu werden wie im Memorialpark am Rio de la Plata?
    Ein alter Mann steigt zu und verteilt Heiligenbildchen im Bus. Zwei Minuten lang kann man sich entscheiden, ob man sie kaufen will. Zwei Minuten halte ich ein Bild von Maria und Jesus in den Händen, bevor ich es zurückgebe und der

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