Mit der Linie 4 um die Welt
ein Mal gewünscht, genügend Geld zu haben, um den ganzen Tag in einem der Budaer Cafés zu verbringen, die französische oder österreichische Namen trugen, im Gellért-Bad zu liegen, bis die Haut sich ablöste, in der deutschen Buchhandlung Westbücher zu kaufen und weich fallende Kleiderstoffe in den Boutiquen. Aber gerade diese mangelnde Zahlungsfähigkeit hat mir die Kehrseiten Budapests gezeigt – die sie wie jede Stadt hat, in der man ohne Geld und Wohnung ist –, und trotzdem gab es aus dem Mangel heraus immer auch Glücksmomente. Ein frisches Hörnchen mit Milch am Morgen nach einer Nacht auf dem Fußboden des Bahnhofs Déli. Ein Mocca im Café Gerbeaud, nur um die Speisekarte mit den Namen der nach k. u. k. klingenden Kaffeesorten und Törtchen abzuschreiben. Ein Fest, wo junge Leute ihre an griechische Tänze erinnernden Reigen tanzten.
© Annett Gröschner
Ich bin damals oft mit der 4 von der Budaer zur Pester Seite gefahren, allerdings ging es nur darum, von einem Punkt zum anderen zu gelangen, vor allem am späten Abend, wenn die U-Bahn ihren Betrieb eingestellt hatte. Auch der Weg ins Thermalbad auf der Margareteninsel führte mit der 4 über die Margaretenbrücke.
Zwischen 2001 und 2003 habe ich für das Buch Ein Koffer aus Eselshaut. Berlin – Budapest – New York, das ich gemeinsam mit Peter Jung schrieb, die Orte seiner Kindheit besucht. Er war der jüngste Sohn des anarchistischen Dichters Franz Jung, mit dessen Leben und Werk ich mich viele Jahre beschäftigt hatte. Eine Station im seit 1937 währenden Exil der deutschsprachigen Familie war Budapest, wo Franz Jung nicht als Dichter, sondern für eine Schweizer Rückversicherung arbeitete und ein bürgerliches Leben auf dem Adlerberg, auf der Budaer Seite der Stadt, aufrechtzuerhalten versuchte, bis dieses Kartenhaus 1944 zusammenfiel und es Franz und Peter Jung über etliche Umwege nach Amerika verschlug. Jeden Morgen nahm der kaum zehnjährige Peter die Straßenbahn über die Margaretenbrücke, die Margit híd, bis in die Damjanichstraße, wo sich die deutsche Schule befand. Die Fahrt dauerte fast vierzig Minuten. »Aber das machte mir nichts aus«, erzählte er, »ich fuhr mit Vorliebe Straßenbahn. Ich habe dann sogar ein Hobby daraus gemacht. Ich fuhr jede Linie von einem zum anderen Ende. Ich wurde zum Experten des Budapester Tramliniennetzes, das weitverzweigt war. Ich kannte mich schließlich so gut aus, dass ich beschloss, Straßenbahnfahrer zu werden. In den vierziger Jahren konnte man noch neben dem Fahrer stehen, das war fast so gut, wie der Fahrer zu sein.«
Für das Buch nahm ich im Frühjahr 2002 alle Wege, die Peter als Kind in den vierziger Jahren in Budapest gegangen oder gefahren war. Auf der Budaer Seite fuhr ich mit der 61 bis zur Hegyalja útca und wanderte den Adlerberg hinauf, wo ich in einer ruhigen Gegend mit Ein- und Mehrfamilienhäusern, nicht pompös, nicht neureich, sondern solide-bürgerlich, das Haus fand, in dem Familie Jung vier Kriegsjahre lang im dritten Stock gewohnt hatte.
Auf dem Stadtplan von Budapest befährt die 61 ein Viertel des Rings um die Innenstadt, drei Viertel davon werden von den Linien 4 und 6 bedient. Sie müssen auf ihrer Strecke zwei Mal über die Donau, zuerst über die Margaretenbrücke und kurz vor der Endhaltestelle in Buda noch einmal über die südlich gelegene Petőfi-Brücke. Umsteigeplatz, Wendeschleife der 4 und der 6 und zugleich Hauptknotenpunkt auf der Budaer Seite ist der Moszkva tér, der Moskauer Platz. Im Gegensatz zu den Plätzen auf der Pester Seite, die den Glanz der bis zum Ende des Ersten Weltkriegs existierenden österreich-ungarischen Monarchie noch viel mehr verkörpern als ähnliche Plätze in Wien, hat der Moskauer Platz osteuropäisches Flair. Hier wird auf der Straße gehandelt, geworben, ab und an auch geborgt oder gestohlen. Es gibt Imbissbuden und Mütterchen, die, unter einem Sonnenschirm sitzend, drei Knollen Knoblauch anbieten. 2011 hat man den Platz in Széll-Kálmán-Platz rückbenannt, vielleicht um ihn in dem neuen ultranationalen Sinne zu »befrieden«. Zwischen 1929 und 1951 hatte er schon einmal den Namen des ungarischen Ministerpräsidenten Széll Kálmán getragen. Eine Renovierung des Areals ist geplant.
2006, der Platz trägt seinen alten Namen noch und es fahren die alten, ellenlangen Straßenbahnen des ungarischen Herstellers Ganz, komme ich in die Stadt, um mit der Linie 4 nach Jahren erneut zu fahren. Auf dem Moskauer Platz die
Weitere Kostenlose Bücher