Mit der Linie 4 um die Welt
Containerschiffe seine Bedeutung verloren. Inzwischen ist die Gegend aufs Vorbildlichste gentrifiziert. Mittags sitzen die Angestellten der Büros der umliegenden Hochhäuser vor den für Buenos Aires teuren Restaurants und Cafés, ihre Schlipse lässig über die Schultern geworfen, vielleicht ein kleiner Widerstand gegen die Uniformierung, vielleicht verursacht vom Wind, der hier zügig um die Ecken pfeift. In den Hafenbecken liegen teure Jachten. Die roten Klinkerbauten der Hafenbehörde, Ende des neunzehnten Jahrhunderts von den Engländern erbaut, sind aufwendig renoviert, als hätte es keine Krise gegeben. Übrig geblieben sind auch zwei Kräne aus dem VEB Kranbau Eberswalde, Dinosaurier aus einer Zeit, als die DDR in Südamerika Kräne gegen Bananen und Apfelsinen tauschte.
Der Bus fährt die vier Hafenbecken ab, auf der rechten Seite die toten Gleise der Hafenanlagen, die sich hinter den Magistralen entlangschlängeln. Von hinten sieht das Verteidigungsministerium aus wie eine Stalin’sche Wohnmaschine in Moskau. Auf der Linken irgendwo der Fluss. Die Stadt liebt ihn nicht. Sie dreht ihm den Rücken zu und hat viele Flächen wie eine Barriere zwischen sich und ihn platziert. Man muss viele Umwege gehen, ehe man an dem unendlich breiten Strom steht, dessen Farbe an Milchkaffee aus dem Automaten erinnert. »Der Fluss ist unsere dunkle Seite«, sagt Ana María Battistozzi, die Kunstkuratorin aus dem Kulturzentrum Recoleta. Es gab eine Zeit, da war der Fluss das Grauen. Während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 wurde er zum Grab all jener, die die Verschwundenen genannt werden. Der Fluss, der breiteste der Welt, hat ihre Körper nicht wieder hergegeben, und nicht weit von hier, auf der Plaza de Mayo, stehen Donnerstag für Donnerstag die Mütter der Verschwundenen und fordern die kollektive Erinnerung.
Die Autopista, eine Stadtautobahn, die zu Zeiten der Militärregierung ohne Rücksicht auf städtebauliche Verluste als Schneise mitten durch die Stadt gezogen wurde, begleitet den Bus der Linie 4 auf allen seinen Wegen. Am Hafenbecken Nr. 1 unterquert er sie zum ersten Mal, um in die Avenida Juan de Garay und ins Viertel San Telmo einzubiegen. Hier sind die Straßen gepflastert und die Schienen der einstigen Straßenbahn liegen noch wie selbstverständlich zwischen den Steinen, als käme hier gleich eine Bahn vorbei. Obwohl von den argentinischen Dichtern oft besungen, wurde die Straßenbahn wie in fast allen Großstädten in den sechziger Jahren dem Individualverkehr geopfert.
Von Weitem leuchtet die Aufschrift »Crónica« von einem Hochhaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Es ist Sitz der gleichnamigen Zeitung, eine Art BILD -Zeitung von Buenos Aires. Der Bus muss eine leichte Steigung überwinden. Links blitzen fünf himmelblaue Zwiebeltürmchen, die aussehen, als hätten sie sich in der Welt geirrt. Die russische Kirche im Moskowiter Stil des siebzehnten Jahrhunderts wurde 1904 in die Straßenflucht gebaut. Vor Kurzem wurde sie aufwendig renoviert. Ganz in der Nähe gibt es eine Moschee, und jedes Viertel entlang der Strecke wird von einer neogotischen oder neoromanischen Kirche dominiert.
»Jedermann weiß, dass der ›Süden‹ jenseits der Straße Rivadavia beginnt. Dahlmann pflegte zu sagen, dass das keine bloße Redensart ist – dass, wer diese Straße überquert, eine ältere und gefestigtere Welt betritt.« Juan Dahlmann, Alter Ego des berühmten Schriftstellers Jorge Luis Borges, fährt vom Bahnhof Constitution in Richtung Süden in den Tod, so in Borges’ Erzählung Der Süden . Die Rivadavia, benannt nach dem Utopisten des frühen neunzehnten Jahrhunderts, Bernardino Rivadavia, und nach fünfunddreißig Kilometern quer durch die Stadt geradewegs bis nach Lima führend, teilt die Stadt in den älteren südlichen Teil und den Norden, in den die Betuchteren nach den großen Gelbfieberepidemien von 1870 und 1871 auswichen. Inzwischen leben die Reichen in privaten und von der Security geschützten Quartieren im Norden der Stadt oder in den Marinas von Tigre. Das Elend sehen sie nur noch, wenn sie ein Mal in der Woche am Abend in die Oper fahren und ihnen bei der Rückfahrt die Scharen von Cartoneros begegnen, die im Müll nach Papier und Kartons suchen – ihre einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen und zu überleben.
An der Rivadavia wechseln die schnurgeraden Straßen ihre Namen. Aus der Florida wird die Peru und aus der Libertad die Salta. Salta und Lima nehmen die Plaza
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