Mit der Linie 4 um die Welt
üblichen Verdächtigen, Penner, Budenbesitzer, Büromenschen mit Aktentaschen auf Durchreise und Zettelverteiler, aber diesmal auch junge Leute in roten T-Shirts, die Wahlkampf machen für den Kandidaten der Sozialisten, der im ersten Wahlgang knapp gewonnen hat, nun steht der zweite an. Zwischen dem bröselnden Beton der U-Bahnstation hängt eine überdimensionale Leinwand, auf der der Kandidat ständig unmotiviert die Arme in die Luft wirft. Dazu erklingt ein Potpourri von sämtlichen angesagten Rockbands der Welt. Die Linie 4 hat Schienenersatzverkehr. Ich muss mich in den überfüllten Bus drängeln. In Budapest fahren noch die alten Ikarus-Busse aus einheimischer Produktion. Ich frage mich seit fünfunddreißig Jahren, warum sie ausgerechnet nach demjenigen benannt sind, der aus Unvorsichtigkeit abstürzte, und nicht nach Daedalus, seinem Vater, der bedächtig und verlässlich war und dem die Busse viel ähnlicher sind, die überall im Ostblock fuhren und – unbequem, aber unverwüstlich – heute noch fahren, außer in Deutschland.
Der Bus überquert die Donau. Die engen Straßen wird es auf der Pester Seite nicht mehr geben, die 4 fährt dort als Ringlinie auf der Ringstraße, einem breiten Boulevard, dessen Name alle paar Hundert Meter an einer der großen, platzartigen Kreuzungen wechselt. Auf der Margaretenbrücke gibt es eine Haltestelle. Fotostopp für Touristen. Es ist einer der schönsten Aussichtspunkte der Stadt, links das Parlament, rechts die Hügel von Buda und dazwischen der breite Fluss, der jetzt im Frühjahr Hochwasser trägt. Am Geländer stehen Angler. 1879 ging zum ersten Mal eine Straßenbahn über die Brücke, bis sie 1944 inmitten des Berufsverkehrs von deutschen Truppen in die Luft gesprengt wurde. Da fiel die Schule schon aus, und Peter Jung packte seinen Koffer aus Eselshaut, um Budapest für immer zu verlassen.
Die Strecke geht über die Margareteninsel hinweg, auf die Szent Istvan körút zu, rechts vor uns das Kaffeehaus Europa und links das Haus, in dem Peter Jung einst den Zauberer von Oz im Kino sah, der ihn nachhaltig beeindruckte. In Budapest spielt auch der schönste, traurigste und zugleich hoffnungsvollste Film, in dem eine Straßenbahn die Hauptrolle spielt – Budapester Legende von István Szabó, der 1977 auf dem Festival in Cannes lief. Der Film beginnt mit einem Kamerablick auf eine Straßenbahn, die umgekippt am Ufer der Donau liegt, irgendwo auf dem Land, in der Nähe von Budapest. Der Krieg hat sie dort angeschwemmt, neben einem Fisch haust auch ein Mensch darin. Andere Menschen kommen dazu, die meisten durch den Krieg verzweifelt und ziellos, aber dann richten sie den Triebwagen auf und beginnen ihn zu bewohnen. Beschließen, er sollte wieder in Budapest fahren und schieben oder ziehen ihn in Richtung Stadt, bis er Schienen unter den Rädern hat. Unterwegs passiert viel, wird gehungert, gelebt, geliebt, gestorben, der Krieg sitzt in den Seelen fest. Am Ende aber, als die Leute glücklich mit ihrer Straßenbahn auf einem großen Platz im Zentrum Budapests angelangen, öffnet sich die Perspektive zur Totalen, und man sieht aus allen Richtungen Straßenbahnen kommen, die von Menschen geschoben werden.
Den Straßenbahnfreunden der Welt hat es die Linie 4 Budapests angetan. Vor allem der Wagenpark, der noch aus Straßenbahnen unterschiedlichster Generationen besteht, wird immer wieder als außergewöhnlich hervorgehoben. Es gibt einen Tram-hikers’ guide to Budapest . Im Internet kann man sich die Fahrt der 4 über die großen Boulevards mit einem Straßenbahnsimulator anschauen, die Straßenbahnansagen sind original. Man blickt aus der Perspektive des Fahrers auf eine verpixelte Stadt, die auch Wien sein könnte.
Schon seit 1887 gibt es eine elektrische Straßenbahn in Budapest. Die erste Linie verkehrte auf einer Strecke, die heute Teil der 4 ist, zwischen dem Bahnhof Nyugati und der Királystraße, wo fünfundvierzig Jahre später Peter Jung auf seinem Weg zur Schule aussteigen musste. Jetzt ist die Schienenspur auf den Ringstraßen bis Blaha Lujza tér, über fast die Hälfte der Strecke, aufgerissen. Hier sollen bald die neuen Niederflurbahnen verkehren, die niemand mehr wie die Vorvorgängerinnen nach den Sturzkampfbombern Stuka nennen wird, weil deren Türen beim Öffnen und Schließen so laut waren, dass auch die müdeste Schichtarbeiterin in der Bahn aus dem Schlaf schreckte.
Im Gegensatz zu Wien, wo fast nur alte Leute öffentliche Verkehrsmittel
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