Mit der Linie 4 um die Welt
benutzen, gibt es in Budapest auch Männer mittleren Alters mit den Insignien der Macht, Geschäftsleute, die in Bussen und Bahnen stehen und geduldig zusammenrücken, wenn immer noch mehr einsteigen. Der Anteil des öffentlichen Personennahverkehrs am Gesamtverkehr liegt bei fünfundfünfzig Prozent, zu sozialistischen Zeiten waren es achtzig Prozent. Die Linie 4 ist zusammen mit der 6 die Lebensader der Budapester Straßenbahn. Ohne sie würde der Verkehr zusammenbrechen. Gut zehntausend Menschen fahren in der Rushhour pro Stunde in eine Richtung, das sind mehr als mit der U-Bahn. In Stoßzeiten gibt es Züge mit zwei achtachsigen Doppelgelenktriebwagen, die es auf vierundfünfzig Meter Länge bringen. Laut den Tram-Hikers hat Budapest den am stärksten frequentierten Straßenbahnbetrieb in Europa. Da könnten sie recht haben. Dazu passt auch, dass die Budapester Straßenbahnen, was sehr ungewöhnlich ist, nur wenige Sitzplätze haben – um noch mehr Fahrgäste mitnehmen zu können. Bis zu zweihundert Menschen passen in die langen alten Straßenbahnen hinein. Während der Bauarbeiten folgt ein Ikarus-Bus dem nächsten. Das sieht aus wie eine unendlich lange, vielgliedrige Schlange.
Es ist Freitagabend im Frühling. Viele Jugendliche sind unterwegs, wollen heute noch etwas erleben. Auf dem Gleisbett sieht man Zauberer stehen, die den Autofahrern Geld aus der Tasche ziehen, womit auch immer. Ein Mädchen drückt mir ihre Schultasche in den Bauch. »24 Stunden adidas«, steht auf Deutsch darauf. Ansonsten tut sich das Ungarische immer noch schwer mit Fremdwörtern. In einer entscheidenden Phase der Internationalisierung, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, hatten in Ungarn die Sprachpuristen das Sagen, weswegen man im Ungarischen Worte wie Restaurant oder Zoo nicht findet. Sie wurden übersetzt. Zurzeit setzen sich die Lehnwörter durch, angepasste Fremdwörter. »Szex«, lese ich über einem Laden in der Nähe des Nyugati-Bahnhofs, an einer anderen Ecke wird auf einen »Szupermarket« hingewiesen. Am Bahnhof leert sich der Bus für einen kurzen Moment, dann strömen schon die neuen Massen ins Innere des Busses. Der Nyugati pályaudvar ist der schönste Bahnhof der Stadt, gebaut vom Architekturbüro Gustave Eiffels, was an den Stahlkonstruktionen zu erkennen ist. Außergewöhnlich ist die von zwei Steinhäusern flankierte Glasfassade, die dem Bahnhofsgebäude etwas Luftiges gibt.
In den achtziger Jahren war der Bahnhof heruntergekommen, die Pracht hatte Patina angesetzt, auf allem lag ein schmutziges Grau, das von den Dampflokomotiven, den Abgasen der Autos und Industriebetriebe herrührte. Es gab schöne Wartesäle, auch einen für die königliche Familie, aber abends wurde man von dort verwiesen. Einmal habe ich mein Nachtlager mangels Alternative in einem schmutzigen Flur neben den Wartesälen aufschlagen müssen, Gepäck und Wertsachen in einem der Schließfächer deponiert. Ich brauchte das Geld für eine Platte der Doors, die es gegenüber dem Bahnhof in einem Plattenladen auf der Teréz körút gab. Der Besitzer des Plattenladens muss einen ziemlichen Reibach mit den jugoslawischen Pressungen gemacht haben. Jeden Morgen ging ich hin und schaute sie an, immer in Angst, jemand könnte sie mir weggekauft haben. Sie ist heute in einem Karton im Keller. Ich überlege, ob ich sie hochholen sollte und anhören, während ich das schreibe. Den Plattenladen gibt es natürlich heute nicht mehr. Mangels Nachfrage eingegangen.
Das ehemalige Bahnhofsrestaurant wurde von McDonald’s gerettet, wider Erwarten haben sie mit sehr viel Fingerspitzengefühl die alte Pracht mit den Bedingungen eines Schnellrestaurants verbunden, also eher Budapester Caféhaus denn Big-Mac-Braterei.
Der Boulevard vor dem Bahnhof sieht immer noch so aus, wie er im neunzehnten Jahrhundert geplant wurde, auch die Häuser haben noch die prächtigen Fassaden, viele wurden in den vergangenen Jahren aufwendig renoviert. Zwischen der eleganten Andrássystraße und der Királystraße sind sie besonders schön, eklektische Paläste wie das Hotel Royal, das Madách-Theater und der New York Palast. Wir kommen zum Blaha Lujzatér und dürfen endlich umsteigen in die Straßenbahn. Ich bin beglückt, dass es eine alte ist. Aber es gelingt mir nicht, einen der raren Plätze zu ergattern, Budapester, die den Kampf um den Sitzplatz von klein auf gelernt haben, sind da schneller.
In die Straßenbahn eingestiegen ist auch ein Kontrolleur. Blitzschnell zieht er
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