Mit der Reife wird man immer juenger
ganz unmißverständliche Auskunft gegeben, er hatte sich kräftig und ausdrücklich dazu bekannt, daß er nichts, absolut nichts wisse, und auf das Prädikat Weisheit keinerlei Anspruch habe …
Da stand ich alter weiser Mann denn vor dem alten unweisen Sokrates und hatte mich zu wehren oder zu schämen. Zum Schämen war mehr als genug Ursache; denn ungeachtet aller Schliche und Spitzfindigkeiten wußte ich ja recht wohl, daß der Jüngling, der mich als Weisen ansprach, dies keineswegs nur aus eigener Torheit und jugendlicher Ahnungslosigkeit heraus tat, sondern daß ich ihm dazu Anlaß gegeben, ihn dazu verführt, dazu halb und halb ermächtigt hatte durch manche meiner dichterischen Worte, in denen etwas wie Erfahrung und Nachgedachthaben, etwas wie Lehre und Altersweisheit spürbar wird, und wenn ich auch, glaube ich, die meisten meiner dichterisch formulierten »Weisheiten« nachher wieder in Anführungszeichen gesetzt, angezweifelt, ja umgestoßen und widerrufen hatte, so hatte ich doch, alles in allem, in meinem ganzen Leben und Tun mehr bejaht als verneint, mehr zugestimmt oder doch geschwiegen als gekämpft, hatte oft genug den Traditionen des Geistes, des Glaubens, der Sprache, der Sitte Reverenz erwiesen. In meinen Schriften war zwar unleugbar da und dort ein Wetterleuchten zu spüren, ein Riß in den Wolken und Draperien der hergebrachten Altarbilder, ein Riß, hinter dem es bedrohlich apokalyptisch geisterte, es war da und dort angedeutet, daß des Menschen sicherster Besitz seine Armut, des Menschen eigentlichstes Brot sein Hunger sei;aber alles in allem hatte ich, gerade so wie alle andern Menschen auch, mich lieber den schönen Formwelten und Traditionen zugewandt, hatte die Gärten der Sonaten, Fugen, Symphonien allen apokalyptischen Feuerhimmeln und die zauberhaften Spiele und Tröstungen der Sprache allen Erlebnissen vorgezogen, in denen die Sprache aufhört und zu nichts wird, weil für einen schrecklich-schönen, vielleicht seligen, vielleicht tödlichen Augenblick das Unsagbare, Undenkbare, das nur als Geheimnis und Verwundung zu erlebende Innere der Welt uns anblickt. Wenn der briefschreibende Jüngling in mir nicht einen unwissenden Sokrates, sondern einen Weisen im Sinn der Professoren und der Feuilletons sah, so hatte ich ihm dazu im großen ganzen doch das Recht gegeben …
Die Untersuchung der Worte »alt und weise« hatte mir also wenig Nutzen gebracht. Ich ging nun, um doch irgendwie mit dem Brief fertig zu werden, den umgekehrten Weg und suchte nicht von irgendwelchen einzelnen Worten aus Aufklärung zu gewinnen, sondern vom Inhalt, vom Ganzen des Anliegens, das den jungen Mann zu seinem Brief veranlaßt hatte. Dies Anliegen war eine Frage, eine scheinbar sehr einfache, also scheinbar auch einfach zu beantwortende Frage. Sie lautete: »Hat das Leben einen Sinn, und wäre es nicht besser, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen?« Auf den ersten Blick scheint diese Frage nicht sehr viele Antworten zuzulassen. Ich konnte antworten: Nein, Lieber, das Leben hat keinen Sinn, und es ist in der Tat besser usw. Oder ich konnte sagen: Das Leben, mein Lieber, hat freilich einen Sinn, und der Ausweg mit der Kugel kommt nicht in Frage. Oder aber: Zwar hat das Leben keinen Sinn, aber darum braucht man sich dennoch nicht totzuschießen. Oder aber: Das Leben hat zwar seinen guten Sinn, aber es ist so schwer,dem gerecht zu werden oder auch nur ihn zu erkennen, daß man doch wohl besser tut, sich eine Kugel usw.
Dies etwa, könnte man beim ersten Hinsehen meinen, wären die auf des Knaben Frage möglichen Antworten. Aber kaum probiere ich es weiter mit Möglichkeiten, so sehe ich bald, daß es nicht vier oder acht, sondern hundert und tausend Antworten gibt. Und doch, möchte man schwören, gibt es für diesen Brief und seinen Briefschreiber im Grunde nur eine einzige Antwort, nur eine einzige Tür ins Freie, nur eine einzige Erlösung aus der Hölle seiner Not.
Diese einzige Antwort zu finden, dazu hilft mir keine Weisheit und kein Alter. Die Frage des Briefes stellt mich ganz und gar ins Dunkle, denn jene Weisheiten, über die ich verfüge, und auch jene Weisheiten, über welche noch weit ältere und erfahrenere Seelsorger verfügen, sind zwar für Bücher und Predigten, für Vorträge und Aufsätze vortrefflich zu verwenden, nicht aber für diesen einzelnen, wirklichen Fall, nicht für diesen aufrichtigen Patienten, der zwar den Wert des Alters und der Weisheit sehr überschätzt, dem es aber
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