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Mit der Reife wird man immer juenger

Mit der Reife wird man immer juenger

Titel: Mit der Reife wird man immer juenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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daß ich an Welt und Menschheit ein für alle mal verzweifelt wäre. Ich wittere Untergang und sehe Häßlichstes herankommen, aber das wird auch sein Ende finden, und es kann in einer völlig zerstörten Welt nachher wieder alles das aufblühen, wozu der Mensch die Möglichkeiten und die Sehnsucht in sich trägt.
    (Aus einem Brief vom Oktober 1951 an Georg Schwarz)

    E s gibt kein höheres Schauspiel als den Menschen, der weise geworden ist und die Befangenheit des Zeitlichen und Persönlichen abgestreift hat.
    (Aus einem undatierten Brief)
Manchmal
    M anchmal, wenn ein Vogel ruft
Oder ein Wind geht in den Zweigen
Oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,
Dann muß ich lange lauschen und schweigen.

    Meine Seele flieht zurück,
Bis wo vor tausend vergessenen Jahren
Der Vogel und der wehende Wind
Mir ähnlich und meine Brüder waren.

    Meine Seele wird ein Baum
Und ein Tier und ein Wolkenweben.
Verwandelt und fremd kehrt sie zurück
Und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?
[Ein Ruf aus dem Jenseits der Konventionen]
    N eulich wurde ich von einem jungen Mann, der mir schrieb, als »alt und weise« angesprochen. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, schrieb er, »denn ich weiß, daß Sie alt und weise sind«. Ich hatte gerade einen etwas helleren Moment und nahm den Brief, der übrigens hundert anderen von anderen Leuten sehr ähnlich war, nicht in Bausch und Bogen, sondern fischte erst da und dort einen Satz, ein paar Worte heraus, betrachtete sie möglichst genau und befragte sie um ihr Wesen. »Alt und weise«, stand da, und das konnte einen müden und mürrisch gewordenen alten Mann zum Lachen reizen, der in seinem langen und reichen Leben der Weisheit sehr oft unendlich viel näher zu sein geglaubt hatte als jetzt in seinem reduzierten und wenig erfreulichen Zustand. Alt, ja, das war ich, das stimmte, alt und verbraucht, enttäuscht und müde. Und doch konnte ja auch das Wort »alt« ganz anderes ausdrücken! Wenn man von alten Sagen, alten Häusern und Städten, alten Bäumen, alten Gemeinschaften, alten Kulten sprach, so war mit dem »alt« durchaus nichts Entwertendes, Spöttisches oder Verächtliches gemeint. Also auch die Qualitäten des Alters konnte ich nur sehr teilweise für mich in Anspruch nehmen; ich war geneigt, von den vielen Bedeutungen des Wortes nur die negative Hälfte gelten zu lassen und auf mich anzuwenden. Nun, für den jungen Briefschreiber mochte das Wort »alt« meinetwegen auch einenmalerischen, graubärtigen, milde lächelnden, einen teils rührenden, teils ehrwürdigen Wert und Sinn haben; wenigstens hatte es diesen Nebensinn für mich in den Zeiten, da ich selbst noch nicht alt war, stets gehabt. Also gut, man konnte das Wort gelten lassen, verstehen und als Anrede würdigen.
    Nun aber das Wort »weise«! Ja, was sollte das eigentlich bedeuten? Wenn das, was es bedeuten sollte, ein Nichts war, etwas Allgemeines, Verschwommenes, ein gebräuchliches Epitheton, eine Phrase, nun dann konnte man es überhaupt weglassen. Und wenn es das nicht war, wenn es wirklich etwas bedeuten sollte, wie sollte ich hinter diese Bedeutung kommen? Ich erinnerte mich einer alten, von mir oft angewandten Methode, an die des freien Assoziierens. Ich ruhte mich ein wenig aus, spazierte ein paarmal durchs Zimmer, sagte mir noch einmal das Wort »weise« vor und wartete, was mir als Erstes dazu einfallen werde. Siehe da, als Einfall meldete sich ein anderes Wort, das Wort Sokrates. Das war immerhin etwas, es war nicht bloß ein Wort, es war ein Name, und hinter dem Namen stand nicht eine Abstraktion, sondern eine Gestalt, ein Mensch. Was nun hatte der dünne Begriff Weisheit mit dem saftigen, sehr realen Namen Sokrates zu tun? Das war leicht festzustellen. Weisheit war diejenige Eigenschaft, welche von den Schul- und Hochschullehrern, von den vor überfülltem Saale vortragenden Prominenten, von den Autoren der Leitartikel und Feuilletons dem Sokrates unweigerlich als erste zugesprochen wurde, sobald sie auf ihn zu sprechen kamen. Der weise Sokrates. Die Weisheit des Sokrates – oder, wie der prominente Vortragende sagen würde: die Weisheit eines Sokrates. Mehr war über diese Weisheit nicht zu sagen. Wohl aber meldete sich, kaum hatte man die Phrase gehört, eineRealität, eine Wahrheit, nämlich der wirkliche Sokrates, eine trotz aller Legendendrapierung recht kräftige, recht überzeugende Gestalt. Und diese Gestalt, dieser athenische alte Mann mit dem guten häßlichen Gesicht hatte über seine eigene Weisheit

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