Mit der Reife wird man immer juenger
bittrer Ernst ist und der mir alle Waffen, Schlichen und Kniffe durch die einfachen Worte aus der Hand schlägt: »Ich habe zu Ihnen Vertrauen.«
Wie wird nun dieser Brief mit einer so kindlichen wie ernsten Frage seine Antwort finden?
Aus dem Brief ist mir etwas angeflogen, etwas entgegengeblitzt, was ich mehr mit den Nerven als mit dem Verstand, mehr mit dem Magen oder Sympathicus als mit der Erfahrung und Weisheit spüre und verarbeite: ein Hauch von Wirklichkeit, ein Blitz aus klaffendem Wolkenriß, ein Anruf von drüben, aus dem Jenseits von Konventionen und Beruhigungen, und es gibt keine Lösung als entweder Sichdrücken und Schweigen, oder aber Gehorsam und Annahme desAnrufs. Vielleicht habe ich noch die Wahl, vielleicht kann ich mir noch sagen: dem armen Knaben kann ich ja doch nicht helfen, ich weiß ja so wenig wie er, vielleicht kann ich den Brief zu unterst unter einen Stoß andrer Briefe legen und so lange halbbewußt für sein Untenbleiben und allmähliches Verschwinden sorgen, bis er vergessen ist. Aber indem ich das denke, weiß ich auch schon: ich werde ihn erst dann vergessen können, wenn er tatsächlich beantwortet, und zwar richtig beantwortet ist. Daß ich das weiß, daß ich davon überzeugt bin, kommt nicht aus Erfahrungen und Weisheit, es kommt von der Kraft des Anrufs, von der Begegnung mit der Wirklichkeit. Es kommt also die Kraft, aus der ich meine Antwort schöpfen werde, schon nicht mehr aus mir, aus der Erfahrung, aus der Klugheit, aus der Übung, aus der Humanität, sondern aus der Wirklichkeit selbst, aus dem winzigen Splitterchen Wirklichkeit, das jener Brief mir zugetragen hat. Die Kraft also, die diesen Brief beantworten wird, liegt im Briefe selbst, er selbst wird sich beantworten, der Jüngling selbst wird sich Antwort geben. Wenn er aus mir, dem Stein, dem Alten und Weisen, einen Funken schlägt, so ist es sein Hammer, sein Schlagen, seine Not, seine Kraft allein, die den Funken weckt.
Ich darf nicht verschweigen, daß ich diesen Brief mit dieser selben Frage schon sehr viele Male bekommen, gelesen und beantwortet oder nicht beantwortet habe. Nur ist die Kraft der Not nicht immer die gleiche, es sind nicht nur die starken und reinen Seelen, die zu irgendeiner Stunde solche Fragen stellen, es kommen auch die reichen Jünglinge mit ihren halben Leiden und ihrer halben Hingabe. Mancher schon hat mir geschrieben, ich sei es, in dessen Hand er die Entscheidung lege; ein Ja von mir, und er werde genesen, und ein Nein, so werde er sterben – – und so kräftig dasklang, spürte ich doch den Appell an meine Eitelkeit, an meine eigene Schwäche, und kam zum Urteil: dieser Briefschreiber wird weder an meinem Ja genesen noch an meinem Nein sterben, sondern weiter seine Problematik kultivieren und seine Frage vielleicht noch an manche andere sogenannte Alte und Weise richten, sich an den Antworten ein wenig trösten und ein wenig belustigen, und eine Sammlung von ihnen in einer Mappe anlegen.
Wenn ich diesem heutigen Briefschreiber solches nicht zutraue, wenn ich ihn ernst nehme, sein Vertrauen erwidere und den Wunsch habe, ihm zu helfen, so geschieht dies alles nicht durch mich, sondern durch ihn, es ist seine Kraft, die mir die Hand führt, seine Wirklichkeit, die meine konventionelle Altersweisheit durchbricht, seine Reinheit, die auch mich zur Lauterkeit zwingt, nicht irgendeiner Tugend, einer Nächstenliebe, einer Humanität wegen, sondern dem Leben und der Wirklichkeit zuliebe, so wie man, wenn man ausgeatmet hat, trotz allen Vorsätzen oder Weltanschauungen nach einer kleinen Weile notwendig wieder einatmen muß. Wir tun es nicht, es geschieht mit uns.
Und wenn ich mich nun, von der Not gepackt, vom Wetterleuchten des wahren Lebens angestrahlt, von der schwer erträglichen Dünne seiner Luft zu raschem Tun zwingen lasse, dann habe ich diesem Brief keine Gedanken und Zweifel mehr entgegenzusetzen, ihn keiner Untersuchung und Diagnose mehr zu unterziehen, sondern ich habe seinem Ruf zu folgen und habe nicht meinen Rat und mein Wissen herzugeben, sondern das einzige, was helfen kann, nämlich die Antwort, die der Jüngling haben will, und die er nur aus einem andern Munde zu hören braucht, um zu spüren, daß es seine eigene Antwort, seine eigene Notwendigkeit ist, die er da beschworen hat.
Es braucht viel, daß ein Brief, eine Frage eines Unbekannten den Empfänger wirklich erreicht, denn der Briefschreiber kann sich ja, trotz aller echten und dringenden Not, auch nur in
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