Mit der Reife wird man immer juenger
Beherbergen der ersten Emigranten und Flüchtlinge hatte es begonnen.
Meinem Sohn erzählte ich, wann und wo wir beiden Freunde uns zuerst hatten kennen lernen. Vor einundsechzig Jahren, es war auch damals September, waren wir von unsern Müttern ins Kloster Maulbronn als Schüler eingeliefert worden, ich habe das einst in einem meiner Bücher beschrieben, es ist eine in Schwaben wohlbekannte Zeremonie. Dort wurde Otto mein Schulkamerad, noch nicht aber mein Freund. Das ergab sich erst bei späteren Wiederbegegnungen, aber es wurde eine feste, unsentimentale und herzliche Freundschaft daraus. Mein Freund hatte zur Dichtung eine unmittelbare, starke Beziehung, ererbt schon von einem gelehrten und kultivierten Vater und ein Leben lang gepflegt und genährt, das machte ihn empfänglich für Werk und Person eines ihm noch durch gemeinsame Erinnerungen verbundenen Dichters. Und mir war der Freund bewunderns- und zuzeiten auch beneidenswert durch seine feste Verwurzelung in einem Heimatboden und Volkstum, das verlieh seinem ohnehin gesetzten und ruhigen Wesen eine Sicherheit und breite Basis, die mir fehlte. Er war weit von jedem Nationalismus entfernt, und gegen patriotisches Großtun und Schreiertum womöglich noch empfindlicher als ich, aber er war in seinem Schwaben, seiner Landschaft und Geschichte, seiner Sprache und Literatur, seinem Besitz anSprichwörtern und Brauchtum vollkommen zu Hause, und was als natürliches Erbe begonnen hatte, das Vertrautsein mit den Geheimnissen, den Wachstums- und Lebensgesetzen, auch den Krankheiten und Gefahren dieses heimatlichen Volkstums, war in Jahrzehnten durch Erfahrung und Studium zu einem Wissen geworden, um das mancher rednerische Patriot ihn beneidete. Für mich jedenfalls, den Außenseiter, war er eine Verkörperung des besten Schwabentums.
Und schließlich also kam er an, das Fest des Wiedersehens fand statt. Er war ein klein wenig älter und seine Bewegungen etwas langsamer seit unsrer letzten Zusammenkunft, aber wie jedes frühere Mal erschien er mir für sein Alter, das ja auch das meine war, bewundernswert rüstig und kräftig, fest stand er auf seinen geübten Wanderbeinen, wie jedesmal kam ich mir neben ihm eher windig und schwächlich vor. Und er kam nicht ohne Gastgeschenk. Als Sendbote meiner schwäbischen Verwandten brachte er mir ein schweres Paket mit, das enthielt, soweit sie sich eben erhalten hatten, alle Briefe, die ich seit etwa 1890 bis 1948 an meine Schwester Adele geschrieben hatte. So brachte er mir nicht nur die Möglichkeit mit, im Gespräch Vergangenes zu beschwören, sondern auch noch eine ganze Truhe voll kondensierter, dokumentierter Vergangenheit. Aber obwohl mir mein für ihn bereitgelegtes Geschenkchen jetzt recht gewichtlos erscheinen wollte, spürte ich doch vom Augenblick seiner Ankunft an nichts mehr von Beschämung und führte ihn heiter und guten Gewissens durch mein Haus. Wir freuten uns beide aneinander, er war bei guter Reisestimmung, und bei mir war mit dem Gast ein Stück Knabenzeit und Jugendheimat eingekehrt. Es gelang mir auch, ihn von seiner Absicht abzubringen, gleich am nächsten Morgen wieder abzureisen, er willigte ein, diese Abreise um einen Tag aufzuschieben.Mit meinem Sohn ging er um wie ein freundlich-höflicher alter Herr, dem noch mit fünfundsiebzig Jahren eine neue Bekanntschaft nicht Last, sondern anregende Freude ist. Martin spürte denn auch, daß er da einen besonderen und wertvollen Mann dürfe kennen lernen, er hat uns beide auch mehrmals, wie wir im Gespräch vor dem Hause standen, mit der Kamera beschlichen und aufgenommen.
Von denen, für die ich diesen Bericht aufschreibe, sind nur sehr wenige so alt wie ich. Die meisten von ihnen wissen nicht, was für alte Leute, zumal wenn sie ihr Leben fern von den Räumen und Bildern ihres Jugendlebens verbracht haben, ein Gegenstand bedeuten kann, der ihnen die Wirklichkeit jener Jugendzeit bezeugt, ein altes Möbelstück, eine verbleichende Photographie, ein Brief, dessen Handschrift und Papier beim Wiedersehen ganze Schatzkammern vergangenen Lebens öffnet und beleuchtet und in dem wir Scherznamen und familiäre Ausdrücke entdeckten, die heute niemand mehr verstünde und deren Klang und Gehalt wir selbst erst wieder mit einer kleinen angenehmen Anstrengung uns klar machen müssen. Und viel mehr, sehr viel mehr als solche Dokumente aus ferner Zeit bedeutet die Wiederbegegnung mit einem lebendigen Menschen, der einst mit dir Knabe und Jüngling gewesen ist, der
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