Mit dir an meiner Seite
die Augen sehen zu können. »Ich ruf dich an. Sobald ich aus Europa zurück bin.«
Ronnie nickte. Sie wusste, das war alles, was ihnen noch blieb. Und sie wusste auch, dass es nicht genug war. Das Leben führte sie in verschiedene Richtungen, jetzt und immer. Der Sommer war vorüber, sie hatten unterschiedliche Pläne.
Ronnie schloss die Augen. Die Wahrheit war manchmal grausam.
»Okay«, flüsterte sie.
EPILOG
Ronnie
In den Wochen nach dem Tod ihres Vaters litt Ronnie immer wieder unter heftigen Stimmungsschwankungen. Aber das war vermutlich nicht anders zu erwarten. Es gab Tage, an denen wachte sie verängstigt auf und durchlebte immer wieder Situationen aus den letzten Monaten mit ihrem Vater. Meistens war sie dann vor Schmerz und Trauer so gelähmt, dass sie nicht einmal weinen konnte. Nach der intensiven Phase des Zusammenlebens fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass er plötzlich nicht mehr da war und dass sie ihn nicht erreichen konnte, selbst wenn sie ihn noch so dringend brauchte. Sie fühlte seine Abwesenheit wie einen bohrenden Messerstich, den sie kaum aushielt, und manchmal war sie völlig verzweifelt.
Aber nach den ersten Wochen wurden solche Morgen seltener, und mit der Zeit merkte Ronnie, dass sie sich nicht mehr so oft abgrundtief traurig fühlte. Dadurch, dass sie bei ihrem Vater geblieben war und ihn gepflegt hatte, war sie ein anderer Mensch geworden, und sie wusste, dass sie es schaffen konnte. Dad würde das von ihr erwarten, und manchmal glaubte sie seine Stimme zu hören, wie er sie daran erinnerte, dass sie mehr Kraft besaß, als sie selbst ahnte. Er würde nicht wollen, dass sie monatelang trauerte, nein, er hätte sie bestimmt ermahnt, ihr Leben unbeschwert zu leben, so wie er selbst in seinem letzten Jahr. Ihm zuliebe wollte sie das Leben genießen und etwas aus sich machen.
In Bezug auf Jonah war es nicht anders. Bestimmt hätte sich ihr Vater gewünscht, dass sie sich um ihn kümmerte, und seit sie wieder in New York war, unternahm sie tatsächlich oft etwas mit ihm. Keine Woche nach ihrer Rückkehr begannen schon seine Weihnachtsferien. Ronnie ging mit ihm im Rockefeller Center Schlittschuh laufen, sie besuchten das Empire State Building, die Dinosaurierausstellung im Museum of Natural History, und gemeinsam verbrachten sie einen ganzen Nachmittag im FAO Schwarz, dem riesigen Spielzeuggeschäft in der Fifth Avenue. In Ronnies Augen waren diese Orte immer typische Touristenattraktionen gewesen und deshalb viel zu banal, aber Jonah genoss die Unternehmungen, und zu ihrer eigenen Überraschung fand sie alles gar nicht so schlecht.
Es kam auch vor, dass sie einfach zu Hause blieben, ohne großes Programm. Ronnie setzte sich zu Jonah, wenn er sich Zeichentricksendungen anschaute, oder sie malte mit ihm am Küchentisch alle möglichen Bilder. Einmal übernachtete sie sogar bei ihm im Zimmer und schlief auf seine Bitte hin vor seinem Bett auf dem Fußboden. In solchen stilleren Momenten sprachen sie gern über den Sommer und tauschten Erinnerungen an ihren Vater aus, was sie beide als unglaublich tröstlich empfanden.
Aber Ronnie wusste natürlich, dass Jonah auf seine eigene Art zu kämpfen hatte, eben wie ein Zehnjähriger.
Sie hatte allerdings den Eindruck, dass etwas ganz Bestimmtes ihn quälte, und eines Abends rückte er endlich damit heraus.
Nach dem Essen machten sie einen kleinen Spaziergang. Es wehte ein eisiger Wind, und Ronnie vergrub die Hände tief in ihren Manteltaschen. Jonah musterte sie unter seiner großen Parkakapuze hervor.
»Ist Mom krank?«, begann er. »So wie Dad?«
Die Frage kam so unerwartet, dass Ronnie erst einmal verdutzt war. Sie ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit Jonah zu sein. »Nein, Mom ist nicht krank. Wie kommst du auf die Idee?«
»Weil ihr nicht mehr streitet, du und Mom. So wie du aufgehört hast, mit Dad zu streiten.«
Ronnie sah die Angst in seinen Augen. Ja, sie konnte der Logik seines Gedankengangs folgen, und es stimmte, dass sie und Mom nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit aneinandergerieten. »Nein, Mom geht es gut. Wir haben einfach keine Lust mehr zu streiten, also geht es auch ohne Krach.«
Jonah musterte sie misstrauisch. »Ist das echt und ehrlich wahr?«
Sie zog ihn an sich und drückte ihn. »Es ist echt und ehrlich wahr.«
Die Monate bei ihrem Vater hatten auch Ronnies Verhältnis zu ihrer Heimatstadt verändert. Sie musste sich erst wieder an die Großstadt gewöhnen. Der ständige Lärm! Und überall
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