Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
errungene Vorteil kann aber auch aus Zeitgewinn bestehen oder der Wiederherstellung der Ehre nach einer Beleidigung. Die dazu nötige Handlung kostet ihn womöglich Geld (K – wenn er etwa Werkzeug für einen Einbruch besorgen muss) und Zeit (Z), in der er durch eine legale Tätigkeit Geld verdienen oder einfach Urlaub machen könnte. Dazu muss er die Wahrscheinlichkeit (W) abwägen, erwischt zu werden – und sie mit der zu erwartenden Strafe (S) multiplizieren, die er bezahlen muss, würde er bei jedem Versuch erwischt werden. Wenn der Gewinn (G) größer ist als null, dann müsste sich der rationale Mensch für die Straftat entscheiden.
Auf meinen Fall des Schwarzfahrens angewandt bedeutet das: Meine Handlung kostet mich weder Zeit noch Geld. Würde ich jedes Mal erwischt werden, dann läge die Strafe bei 64000 Euro für 1600 Schwarzfahrten. Die Wahrscheinlichkeit, auf der Fahrt von der vorletzten zur letzten Station erwischt zu werden, liegt aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen bei 0,1875 Prozent.
Meine Formel lautet: G = 421,20(B) – 0 (K) – 0(Z) – 0,001875(W) × 64000(S)
Also: G = 331,20 Euro.
In dieser recht einfachen Version ist es also sinnvoll, den kriminellen Akt des Schwarzfahrens zu wählen – dennoch würde es meine Frau nicht tun, weil sie das Risiko der Blamage nicht eingehen will. Aus diesem Grund hat Becker in seine Überlegungen auch die unterschiedliche Risikobereitschaft eingeführt – und gezeigt, dass selbst risikobereite Menschen von einem Verbrechen absehen würden, wenn die Wahrscheinlichkeit des Erwischtwerdens und die resultierende Strafe – oder auch die Demütigung beim Ertapptwerden – nur hoch genug seien. Wenn ein Dieb damit rechnen müsste, in acht von zehn Fällen erwischt zu werden und ihm jedes Mal ein Finger abgehackt würde, dann würde wohl fast jeder böse Bube auf den Diebstahl verzichten.
Würde der Münchner Verkehrsverbund die Anzahl der Kontrolleure verdoppeln und mir bei jedem Aufgreifen einen Finger abhacken, würde ich es wohl bleiben lassen. Es würde schon reichen, die Strafe zu erhöhen: Bei 100 Euro und einer Wahrscheinlichkeit des Ertapptwerdens von 0,37 Prozent sähe meine Formel so aus:
G = 421,20(B) – 0(K) – 0(Z) – 0,0037(W) × 160000(S)
Also: G = – 170,80 Euro.
Das Verbrechen würde sich nicht mehr lohnen.
Also wäre es doch ganz einfach, das Schwarzfahren für Menschen wie mich unrentabel zu machen: Rauf mit Kontrollen und Strafen – und alles ist gut! Es ist erstaunlich, wie viele Politiker so denken, obwohl diese Überlegung meistens totaler Quatsch ist.
Ich möchte mich zunächst mit der Wahrscheinlichkeit des Erwischtwerdens beschäftigen. In meinem Fall konnte ich das Risiko, ertappt zu werden, aufgrund meines vier Jahre dauernden Selbstversuchs relativ präzise definieren. Bei den meisten Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten ist das nur schwer oder überhaupt nicht möglich: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, bei zu schnellem Fahren erwischt zu werden? Die meisten Autofahrer werden behaupten: »Ich werde auf jeden Fall häufiger geblitzt als alle anderen!« Der Mensch führt einen lebenslangen Indizienprozess gegen das eigene Dasein, was meist in dem Satz resultiert: »Siehst du, immer ich!«
Wie irreführend Statistiken sein können, zeigen Kriminalstatistik und Aufklärungsquote, die die Bundesländer jährlich präsentieren. Bayern hat seine hohe Aufklärungsquote zum Verkaufsschlager gemacht und rühmt sich selbstbewusst als sicheres Bundesland mit fähigen Beamten. Beweis: die Kriminalstatistik. Auch in Niedersachsen pries sich Innenminister Uwe Schünemann im Jahr 2012 mit einer einfachen Formel: »Je mehr Täter man schnell dingfest macht, desto sicherer ist ein Land. Ich bin froh, dass wir in Niedersachsen aufgeschlossen haben und unter den Ländern mit der besten Aufklärungsquote sind.« Schünemann will gewählt werden, während des Wahlkampfs sind solche Sätze von immenser Bedeutung: Guckt mal her, 62 Prozent aller Verbrechen werden aufgeklärt! Ist das nicht prima, was wir für die Sicherheit der Bürger tun?
Jörg Ziercke muss keine Landtagswahlen gewinnen. Er ist der Chef des Bundeskriminalamts und muss deshalb keine Sätze sagen, die Wähler begeistern sollen. Er sagt deshalb: »Das Gieren nach der Aufklärungsquote ist absolut daneben.«
Als in Niedersachsen im August 2011 befürchtet wurde, dass die herausragende Quote des Vorjahrs wohl nicht zu halten sei, da wurden den Polizeidirektionen in
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