Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
Fußgängerampel zeigt an, dass ich warten muss. Ich zähle: Eins, Mississippi, zwei, Mississippi, drei, Mississippi. Beim zehnten Mississippi trete ich die Ampel.
Ich bin kurz davor, meinen Hausarzt zu bitten, mir für die verschiedenen Stadien meiner Ungeduld Baldrian, Valium und Morphium zu verschreiben, dann mache ich eine Analyse des zurückliegenden Monats. Die interessante Erkenntnis: In vielen Fällen ist der Zeitgewinn durch schnelleres Fahren minimal. Sich auf der 240 Kilometer langen Strecke zwischen München und dem Heimatort meiner Eltern an alle Tempolimits zu halten, führt zu einer durchschnittlichen Verlängerung der Fahrtdauer von sechs Minuten und 26 Sekunden. Würde ich nachts auf dem Heimweg trotz roter Ampel loslaufen, so würde ich 17 Sekunden gewinnen – wobei die Ampel einen nur jedes vierte Mal aufhält. Kein einziger der 47 Anrufe, die ich während der Autofahrten in diesem Monat bekommen habe, war derart wichtig, dass ich ihn in diesem Moment hätte beantworten müssen. Und es macht niemals Sinn, betrunken in ein Auto zu steigen.
Die Versuchung, im Straßenverkehr das Gesetz zu brechen, ist omnipräsent. Sie erscheint nicht nur verlockend, sondern bisweilen auch sinnvoll. Doch das ist sie nicht. In den meisten Fällen wäre es sinnvoller, drei Teller Chili zu essen, als eine Regel zu übertreten.
Ich halte mich einen Monat lang an alle Verkehrsregeln, die es so gibt, ich fahre wie ein Schüler bei der Prüfung. Das Erstaunliche daran ist, dass ich mit der Zeit gelassener werde. Es ist die Resignation des Ohnmächtigen: So wie ich nach sechs Jahren Ehe gemerkt habe, dass es sinnlos ist, sich gegen den Willen seiner Frau zu stellen, so erkenne ich auch, dass es wenig erquicklich ist, sich über den Straßenverkehr aufzuregen. Also gebe ich auf und entspanne mich. Immer mehr. Irgendwann bin ich ein buddhistischer Mönch beim Morgengebet. Ich fluche nicht mehr, ich wünsche den Kindeskindern anderer Autofahrer keinen Fußpilz mehr, ich trommle auch nicht mehr auf dem Lenkrad herum.
Ich bin innerhalb von sechs Monaten zu einem der ruhigsten Autofahrer der Welt geworden – und das nur, weil ich fahre, wie ich fahren sollte.
Ist es wirklich so einfach? Bin ich zu einem lebenden Klischee geworden? Ich mache weiter. Ein ganzes Jahr lang. Es funktioniert, weil ich andere Möglichkeiten zum Abreagieren habe – dazu später mehr. Aber im Auto bin ich Zen und im Nirwana, als hätte jemand vor der Fahrt das Auto mit Marihuana eingesprüht. Hindu-Kühe sind nicht so entspannt wie ich. Das bemerkt auch meine Frau und setzt mich im Juni wieder als Chauffeur für Finn ein.
Im September dann passieren zwei Dinge: Zuerst erleben wir auf der Autobahn einen Drängler, der gerade ein Fortgeschrittenenseminar an der Volkshochschule zum Thema Nervensägen mit Prädikat abgeschlossen hat. Wir fahren mit etwa 160 Stundenkilometern, vor und neben uns befinden sich andere Fahrzeuge – und der Typ klebt an unserer Stoßstange, als wollte er mit seinem Kühlergrill den Hintern unseres Autos küssen. Geschätzter Abstand: zehn Meter. Er hupt, blendet auf, blinkt links. Dann reißt er sein Fahrzeug auf die rechte Spur, gibt Gas und küsst beinahe ein anderes Auto. Dann brettert er wieder nach links und hupt und blendet und blinkt.
(Un-)Wichtiges Wissen
Der Elbtunnel in Hamburg hat
einen eigenen Paragrafen im
Bußgeldkatalog: Wer die Höhen-
kontrolle auslöst, muss 240 Euro
bezahlen. Die hohe Strafe er
scheint sinnvoll, da dieses Ver-
gehen verantwortlich ist für
Mega-Staus.
Sollte jemand die 15-spurige Autobahn in Deutschland einführen, wären die rechten 14 Spuren verwaist.
Ich sitze hinten bei Finn, also habe ich die Möglichkeit, den Überholer zu fotografieren und zu filmen. Ich notiere Kennzeichen und Aussehen des Dränglers und freue mich, endlich einen von diesen Typen erwischt zu haben.
Daheim zeige ich meiner Frau die Aufnahmen und erkläre, bei der Polizei eine Anzeige machen zu wollen.
»Willst du wirklich einer dieser Menschen sein?«
Dann sieht sie mich an, wie Henry Jones seinen Sohn Indiana in Der letzte Kreuzzug ansieht, als sich Indy nach dem Heiligen Gral streckt. Sie sagt: »Lass es doch einfach.«
Ich lösche die Bilder und lasse es einfach.
Zwei Wochen später der nächste Vorfall: Vor uns steht einer an der Ampel, dessen Lebensaufgabe es ist, andere Menschen zu ärgern. Das sind Menschen, denen an der Supermarktkasse einfällt, dass sie auch mit Kleingeld bezahlen können, und
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