Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
Arbeitslosigkeit herausholen könne. »Das war Anleitung zum Sozialbetrug. Einer fragte doch tatsächlich: ›Ach, Sie wollen wirklich arbeiten und nicht nur das Geld haben? Gibt’s ja gar nicht!‹ Hat der wirklich ernst gemeint.«
Irgendwann habe es ihm gereicht: »Ich habe gemerkt, dass es den Leuten scheißegal ist, ob ich wieder Arbeit finde oder nicht. Nach fast zwei Jahren hatte ich Erfahrung darin, Formulare auszufüllen, und mit der Gesetzgebung war ich auch vertraut. Also habe ich begonnen, so viel wie möglich herauszuholen und nebenher kleine Jobs anzunehmen.«
Was es braucht? »Geduld beim Ausfüllen der Formulare, Genauigkeit beim Einhalten der Fristen, Genügsamkeit beim Ausgeben des Geldes – und natürlich ein bisschen Kreativität.« Anton lacht.
Wissen für Nichtjuristen
Einem Arbeitnehmer kann auch
wegen Krankheit gekündigt
werden. Bei einer erheblichen
Beeinträchtigung der betrieb-
lichen Interessen ist so eine
Kündigung zulässig. (§ 1 Kündi-
gungsschutzgesetz)
In Deutschland leben nämlich nicht nur Dichter und Denker, sondern vor allem Ausfüller. Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie viele Formulare Sie in Ihrem Leben bereits ausgefüllt haben? Beim Arzt, für die Krankenversicherung, auf dem Finanzamt, für die Haftpflichtversicherung, im Bürgerbüro, beim Bestellen im Internet, auf der Kfz-Zulassungsstelle, im Krankenhaus, auf dem Standesamt, im Sportverein, am Arbeitsplatz, bei Bewerbungen, bei Anträgen, in Kirchen, im Jobcenter, bei der Musterung, bei der Sozialversicherung.
Haben Sie in der Zwischenzeit gezählt? Sind Sie wie ich im niedrigen vierstelligen Bereich angelangt?
Anton auch. Er hat die Formulare seit seiner Arbeitslosigkeit einmal gezählt. Es waren 235 in sieben Jahren. Auch er kommt auf mehr als 1000 in seinem Leben.
Viele Menschen in Deutschland betrügen. Mitmenschen, Firmen, Staat. Wer nur ein klein wenig mehr aus einer Sache herausschlagen kann, der versucht es auch. Das kann die Reklamation einer neuen Jacke sein, die man beim ersten Ausführen selbst besudelt hat. Das kann beim Gebrauchtwagenverkauf sein. Oder eben beim Arbeitsamt. Die Bundesagentur für Arbeit hat in den zwölf Monaten zwischen August 2011 und Juli 2012 zum ersten Mal mehr als eine Million Sanktionen erlassen. 140000 dieser Menschen wurden bestraft, weil sie sich weigerten, eine zumutbare Arbeit anzunehmen.
Anton wollte kein Betrüger sein. Er wollte auch nicht zu jenen gehören, die auf Kosten des Staates leben. Nur fand er keine Arbeit. »Ich mache auch den Staat nicht dafür verantwortlich«, sagt er, »der kann ja keine Jobs zaubern. Aber ich fühlte mich schon hängen gelassen, weil einem suggeriert wird: Für dich geht von nun an gar nichts mehr.« Er zeigt mir die Aufträge der vergangenen Monate. Er ist ausgebucht, weil seine Kunden kein Problem damit hätten, einen Schwarzarbeiter zu beschäftigen: »Ich sehe das für mich so: Ich habe mein Leben lang gearbeitet, ich habe Steuern bezahlt – und wurde dann, als ich den Staat und das soziale System gebraucht hätte, einfach im Stich gelassen. Ich will weiterarbeiten, das ist meine einzige Chance, also mache ich das.«
Sollte jemand ein schlechtes Gewissen suchen: Hier bei Anton ist es nicht. Bei seinen Auftraggebern übrigens auch nicht: »Wissen Sie, was man heutzutage beachten muss, wenn man ein Haus bauen möchte? Oder was es kostet, wenn Sie das Wohnzimmer ganz offiziell von einem Maler streichen lassen möchten? Das kann sich doch keiner mehr leisten! Also kommen die, die mich kennen, zu mir. Beide Seiten profitieren davon.«
Es fällt einem schwer, Anton nicht zu mögen. Seine Mutter hat definitiv kein faules Kind erzogen. Er hat ein gutes Herz, er möchte arbeiten, er ist keiner, den man als »Sozialschmarotzer« bezeichnen würde.
Er ist aber ein Betrüger, er ist ein Vertreter der Schattenwirtschaft.
Der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Schneider von der Universität Linz schätzt, dass die Schwarzarbeit im Jahr 2012 in Deutschland 13,3 Prozent des legalen Bruttoinlandsprodukts ausgemacht hat, er geht von einem Schaden von 342,4 Milliarden Euro aus. Die Rockwool-Stiftung in Kopenhagen dagegen schätzt den Schaden in Deutschland auf nur etwa 30 Milliarden Euro pro Jahr.
Noch immer wird diskutiert, ob die Schattenwirtschaft Schaden anrichtet oder nicht. »Ich sehe es nicht als Problem für die Volkswirtschaft, weil letztlich die Wertschöpfung gesteigert und der Wohlstand vermehrt wird«, sagt Schneider.
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