Mit einem Bein im Modelbusiness
meinem Handicap nur gut mit mir meinte. Wofür Justin Bieber Privatstunden bei P. Diddy nehmen muss, das wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt – ich war der König des Swag-Walks. Ich feierte mich selbst für diese hochspirituelle Erleuchtung des Tages und bekam wieder gute Laune. Zwar hatte ich immer noch keine Ahnung, was mich in Paris erwarten würde, aber nachdem es in Mailand so gut gelaufen war, beschloss ich, mir einfach keinen Stress zu machen. Nach dem Motto Go with the flow absolvierte ich meine zehn Castings pro Tag, was anstrengend genug war, und plumpste am Abend völlig erschöpft ins Bett.
Supercool
Mein Tagesablauf unterschied sich nicht sonderlich von dem in Mailand. Die Namen klangen halt anders – französischer. Nach dem Aufstehen fuhr ich mit der U-Bahn von Louise Michel nach Courcelles, holte in der Agentur meine Casting-Sheets ab und drehte meine Runden durch die Stadt. Nachdem der erste Tag zwar aufschlussreich, aber doch eher unspektakulär zu Ende ging, staunte ich am nächsten Morgen nicht schlecht, als ich den Namen Jean Paul Gaultier auf meinem Zettel las. Oh, là, là, das war schon eine Ansage. Auf der anderen Seite stand ich bereits mit einem Bein in Armanis Wohnzimmer, also bloß keine übertriebenen Hoffnungen, Monsieur Galla.
Jean Paul Gaultier war der coolste Typ unter der Sonne! Mit etwa dreißig anderen Models wartete ich in einer riesigen Lobby und starrte gespannt auf die große, verschnörkelte Holztür, die durch einen schwarzen Vorhang verdeckt war. Dahinter verbarg sich der Casting-Room, in dem Jean Paul Gaultier uns empfangen würde. Die Atmosphäre war ganz anders als bei anderen Castings. Keiner der Angestellten wuselte hektisch umher oder spielte sich künstlich auf. Es kam mir eher so vor wie bei einem lockeren Meet & Greet. Der Meister ließ uns nicht lange warten. Der Vorhang ging auf, und jedes Model wurde persönlich von ihm begrüßt. Dann wurden Gummibärchen verteilt.
» Nur keine Hemmungen. Greift zu!«, lachte er charmant. Er war einfach derbe nett.
Die meisten Designer, die ich bislang getroffen habe, sind während der Vorbereitungen zur Fashion Week extrem angespannt. Gaultier hingegen machte den Eindruck, als hätte er gerade eine zweistündige Meditationsphase hinter sich gebracht. Er wirkte völlig relaxt. Was mich aber besonders beeindruckte, war, dass er sich für jedes Model Zeit nahm. Auch wenn er nur fünf Minuten mit dir sprach – während dieser Momente war er zu hundert Prozent bei dir. Er schenkte dir seine völlige Aufmerksamkeit, und das, obwohl es lediglich ein Casting war und er die meisten der Models womöglich nie wiedersehen würde. Natürlich darf man nicht glauben, dass er sich wirklich für einen interessierte – bei der Menge an neuen Gesichtern geht das ja gar nicht. Trotzdem gab er mir das Gefühl, mich nicht nur als ein Stück laufendes Fleisch zu betrachten, dem eventuell die Ehre zuteilwürde, seine aktuelle Kollektion vorführen zu dürfen. Längst nicht alle Designer handhaben das so galant.
Jean Paul Gaultier trifft im Vorfeld zu den Castings bereits eine sehr präzise Vorauswahl, was ich richtig cool finde. Die meisten Kunden gehen vielmehr mit der Einstellung heran: Lasst die Models mal schön hier antanzen, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass ich über die Hälfte der Jungs kategorisch ausschließen könnte. Gaultier hingegen lädt nur die ein, bei denen er das Gefühl hat, dass jeder von ihnen die Show laufen könnte. So bleibt ihm auch die Zeit, seine Models kennenzulernen, ein bisschen zu plaudern und im besten Fall sogar eine persönliche Beziehung aufzubauen: Woher kommst du? Was machst du sonst? Ist deine natürliche Haarfarbe wirklich so blond?
Ich durfte zwei Outfits anprobieren und präsentierte meinen Walk. Es lief gut. Wir warfen uns ein paar nette Worte zu, dann drehte sich Gaultier um und sagte etwas auf Französisch zu seiner Assistentin. Ich spürte, dass er mich toll fand.
Okay, Mario, jetzt nur nicht zu viel nachdenken. Bleib locker! Gaultier griff nach meinem Buch, blätterte ein bisschen und blieb bei einem Foto hängen. Er hob es hoch und zeigte es seiner Assistentin.
Oh nein! Jetzt ist alles vorbei, dachte ich, denn ich fand dieses Bild grauenvoll. Ich sah darauf aus wie ein verträumter, metrosexueller Teenager, der zum ersten Mal in eine Kamera lächelt – total peinlich! Gaultier liebte es aber und klopfte immer wieder bestätigend mit einem Finger darauf, was mir wiederum zeigte,
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