Mit einem Bein im Modelbusiness
dass ich vom französischen Markt nicht die leiseste Ahnung hatte. Dann legte er das Buch beiseite.
» Mario, für diese Kollektion denke ich, kann ich dir nichts anbieten …«
Oh! Seine ehrlichen Worte irritierten mich. Normalerweise sagen die Designer nie direkt vor Ort, dass sie einen nicht buchen. Sie sagen eigentlich gar nichts.
» … aber komm doch bitte im Januar wieder, dann machen wir was zusammen. Ich könnte mir das gut vorstellen.«
Mein Herz machte einen Riesensatz.
» Das ist ja toll«, strahlte ich über beide Ohren. » Natürlich komme ich. Und wie ich komme.«
Wahnsinn!
Sofort begannen sich die Rädchen in meinem Kopf wieder zu drehen. Wenn Jean Paul Gaultier schon so eine konkrete Einladung aussprach, musste er mich ja richtig auf dem Zettel haben. Es gab für ihn überhaupt keinen Grund, mir Honig ums Maul zu schmieren, wenn er es nicht ernst meinte. Ich war überglücklich. Sicher hatte er schon den Look seiner nächsten Kollektion im Kopf und wollte mich dafür aufsparen. Träume! Träume! Träume!
Richtig bemerkenswert fand ich aber, dass ihn mein Handicap überhaupt nicht zu stören schien. Ich schwebte auf Wolke sieben. Was für eine wunderbare Stadt!
Noch am gleichen Abend klingelte mein Handy – mein französischer Booker.
» Mario, Mario, Mario, ich bringe herrliche Nachrichten: Jean Paul Gaultier liked you very very much.«
» Woohoo«, blökte ich zurück.
» Es lief also gut, ja?«, fragte er.
» Ja, ich glaube, wir hatten die gleiche Wellenlänge.«
» Er möchte, dass du zur Fashion Week im Januar zurückkommst«, sagte er aufgeregt. » Mario, das ist wirklich très très fantastique.«
Das war es wirklich. Wenn die Leute von Jean Paul Gaultier extra in meiner Agentur anriefen, nur um mir ausrichten zu lassen, dass ihr Boss mich mochte, dann … war wirklich alles möglich.
Bei Yves Saint Laurent
Am darauffolgenden Morgen hätte ich mir vor Freude fast meinen Café au lait à emporter über die Hose geschüttet. Nicht wegen Jean Paul Gaultier, sondern wegen meiner ersten Station des Tages: Yves Saint Laurent. Besser konnte man den Tag in der Stadt der Liebe nicht beginnen.
Das Casting fand in der Rue du Faubourg Saint-Honoré statt, der exklusivsten Einkaufsstraße von ganz Paris. Alle großen Designer, Mode- und Schmuckfirmen haben dort ihre Dependancen: Chanel, Valentino, Cartier, Hermès, Lancôme, Chloe, Givenchy – alle eben. Die Büros von Yves Saint Laurent liegen im obersten Stockwerk eines unauffälligen Hauses, von wo man einen sensationellen Blick auf die Champs-Elysées und den Place de la Concorde hat. Ich fühlte mich sofort wohl. Die Frau, die das Booking betreute, begrüßte mich herzlich und fing auf der Stelle an, von Hamburg zu schwärmen.
» Oh yeah, die schöne Alster«, strahlte sie wie ein junges Mädchen. » Wie gerne würde ich wieder dort wohnen. So beautiful!«
Ein optimaler Einstieg für mich, denn nun hatten wir eine Gesprächsbasis und konnten das eigentliche Casting mehr oder weniger nebenbei durchziehen. Ich erzählte ihr ein bisschen von der Schanze, beschrieb ihr, wo meine Wohnung lag, und mit jedem Wort, das aus meinem Mund kam, schwelgte sie mehr in Erinnerungen. Sie schoss noch ein Foto von mir, aber das war’s dann auch schon. Fünf Minuten später hetzte ich bereits zum nächsten Casting. Business as usual.
Am nächsten Tag erfuhr ich von meinem Booker, dass ich die erste Runde bei Yves Saint Laurent überstanden hätte. Oha! Ich wusste gar nicht, dass es so etwas überhaupt gab und kam mir ein bisschen so vor wie bei Deutschland sucht den Superstar. Mein Recall fand bereits am gleichen Nachmittag statt. Ich war also noch im Rennen.
Dieses Mal wurde ich von zwei Designern begutachtet, was allerdings keine drei Minuten dauerte. Rein. Zack. Raus.
Und wieder kam der Anruf aus der Agentur: » Mario, die mochten dich auch. Du bist in der nächsten Runde.«
Yessir!
Sie selektierten peu à peu aus. Was für ein Aufwand! Sowohl für die Mitarbeiter als auch für uns Models. Aber okay, jeder Designer hat seine eigene Methode. Ich war auf jeden Fall glücklich.
Bei meinem dritten Rendezvous mit YSL fühlte ich mich fast schon ein bisschen heimisch. Jetzt durfte ich auch in die neue Kollektion schlüpfen.
» Mario, welche Schuhgröße hast du?«, fragte ein Assistent, der nicht viel älter war als ich.
» 45.«
Über meinen linken Fuß bekomme ich zwar locker eine 44 drüber, aber rechts, bei der Orthese, ist das jedes Mal
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