Mit einer Prise Glück und Liebe
um ihm »anständig den Kopf zu waschen«, wie meine Urgroßmutter Adelaide es nennen würde. Er war bei Bewusstsein und fühlte sich ziemlich mies, was ihm recht geschieht. Ich habe mich neben sein Bett gestellt und gesagt: »Du hörst mir jetzt mal genau zu, Oscar Wilson. Du wirst leben, hast du mich verstanden? Ich brauche dich. Ich liebe dich, und ich werde dich nicht aufgeben, ist das klar?«
Er sah mich an. Der Ausdruck in seinen Augen war so unendlich traurig. »Ich kann nicht, Sofia.«
»Doch, du kannst.« Ich küsste seine Fingerspitzen, die aus dem Verband ragten. »Deine Tochter hat dir eine Mail geschickt.«
Er starrte an die Zimmerdecke.
»Hörst du mir zu, Oscar? Diese Mail stammt von deiner Tochter, die bei ihrer drogensüchtigen Mutter gelebt hat, bevor ich es geschafft habe, sie zu meiner Mutter zu bringen, wo sie in Sicherheit ist. Erinnerst du dich an all das noch?«
Er sah mich an, sagte jedoch kein Wort.
Also las ich ihm Katies Brief vor, den ich hier eingeklebt habe.
Lieber Dad,
heute ist ein großer Tag. Ich habe mir die Haare abschneiden lassen, wozu mich die anderen schon seit einer Ewigkeit überreden wollten, und es sieht super aus. Plötzlich kringeln sich meine Haare wunderschön.
Ich habe dir ja schon erzählt, dass mein neues Hobby Blumen sind. Ich habe schon so viele gepflanzt, dass es nicht mehr feierlich ist – Geranien und Dahlien sind Sommerblumen, und ich finde sie superschön. Ich mag auch die Frühlingsblumen, die hier geblüht haben, als ich angekommen bin (allmählich fühlt es sich an, als wäre es in einem anderen Jahrhundert gewesen!). Sie heißen Flieder, sagt die alte Frau, der ich immer im Garten begegne. Sie gärtnert leidenschaftlich gern. Und Merlin, mein Hund, mag sie sehr. Er benimmt sich immer wie ein alberner Welpe, wenn sie kommt. Manchmal glaube ich, sie ist ein bisschen plemplem, weil sie immer nur mit mir redet, wenn sie im Garten ist, außerdem vergisst sie vieles, was ich ihr erzähle. Aber sie ist nicht böse oder so was, sondern nur ein bisschen plemplem, wie alte Leute eben sind. Aber sie weiß alles über Blumen, das steht fest.
Ramona hat mir eine Karte für die Leihbücherei besorgt, und ich lese ständig. Siebzehn Bücher im Juni! Das ist echt selbst für mich eine Riesenmenge.
Ich wünschte, du würdest mir zurückschreiben. Ich vermisse dich, und ich hab dich lieb.
GUTE BESSERUNG ! Tausend Grüße und Küsse (oder noch mehr),
Katie
Ich faltete den Brief zusammen und sah ihn an. Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln, was ich als gutes Zeichen wertete.
»Wenn dir nächstes Mal jemand Tabletten vorbeibringt, überlegst du dir gefälligst, wie deine Tochter reagieren würde, wenn sie es erfährt.«
Er sagte kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Ich wusste, dass meine Worte angekommen waren.
Gleich holt mich Lily zum Abendessen ab, deshalb sollte ich mich lieber fertig machen.
Heute geht es besser. Ich weiß nicht, ob er beschlossen hat, am Leben zu bleiben, aber zumindest bin ich wieder auf dem Damm.
ZWEIUNDFÜNFZIG
Ramona
M eine Lehrlinge und ich sind bereits um zwei Uhr in der Backstube, um alles in Ruhe vorbereiten zu können. Es ist eine Wohltat, endlich wieder arbeiten und für eine Weile die Sorgen um meine Tochter und Katie vergessen zu dürfen. Genau das hat mir das Brotbacken schon immer gegeben – die Möglichkeit, der Realität eine Zeit lang zu entfliehen. Der Roggenteig von heute ist stark und ungezähmt wie ein wildes Tier und verströmt einen intensiven Geruch nach Erde, Verlangen und Unendlichkeit.
Der Teig ist zu widerspenstig, um ihn zu großen Laiben zu formen, deshalb beschließe ich, Mini-Laibe mit Blauschimmelkäse zuzubereiten, eine europäische Spezialität, die bestimmt gut ankommt.
Als ich die Fensterläden öffne und die Spezialitäten des Tages an die Tafel schreibe, kriecht die Sonne gerade über den Horizont. Ein Anflug von Optimismus macht sich in mir breit. Katies Blumen blühen in voller Pracht – es sind genau dieselben wie die, die meine Großmutter Adelaide an dieser Stelle gepflanzt hatte, was mir erst jetzt bewusst wird.
Wie ungewöhnlich.
Ich trete nach draußen und gehe ein Stück den Gehsteig entlang, um die Gänseblümchen und die Kornblumen zu bewundern, die Katie am schmiedeeisernen Zaun gepflanzt hat.
»Ramona!«
Ich drehe mich um, als ich die Stimme meiner Großmutter hinter mir gehört zu haben glaube, doch da ist niemand. Ich sehe zum Fenster im zweiten Stock hinauf, wo
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