Mit einer Prise Glück und Liebe
der Straße. Ein Obdachloser mit zentimeterdicken Schmutzrändern am Hals und unter den Nägeln spricht sie an. »He, Kleine, hast’n bisschen Kleingeld fürn alten Mann?«
Sie schüttelt den Kopf und drückt ihren Rucksack fester an ihre Brust. »Ich hoffe nur, du hast nie Hunger und kein Dach überm Kopf«, schreit er ihr hinterher. Aus irgendeinem Grund ärgert sie die Bemerkung. Sie fährt herum und funkelt ihn an. »Hatte ich schon mal, und zwar beides, herzlichen Dank.«
Er sieht sie traurig an, und Katie stapft zum Waschraum. Sie geht auf die Toilette und wäscht sich die Hände, sorgsam darauf bedacht, alles nur mit einem Papierhandtuch anzufassen. Sie betrachtet sich im Spiegel. Ihr Gesicht ist schmutzig, ihre Augen sind verquollen. Wieder fragt sie sich, was, zum Teufel, sie hier eigentlich tut.
Entschlossen schiebt sie den Gedanken beiseite und verlässt den Waschraum. In der Bahnhofshalle kauft sie sich ein Sandwich und einen Orangensaft und lässt eine Tüte Chips aus dem Automaten, ehe sie wieder in den Bus steigt.
Die anderen Fahrgäste haben sich ebenfalls Proviant besorgt, und der Duft von Kaffee steigt ihr in die Nase. Sie packt das Sandwich aus und starrt aus dem Fenster, während sie darauf wartet, dass der Bus endlich weiterfährt und sich hoffentlich niemand auf den freien Platz neben ihr setzt.
In ein paar Stunden wird sie ihre Mom wiedersehen. Ein Glück, dass sie seit zwei Monaten clean ist und in einer ziemlich guten Verfassung zu sein scheint. Und wenn sie erst einmal mit ihr geredet hat, wird sie auch wissen, was weiter zu tun ist.
VIERUNDFÜNFZIG
Ramona
N ach El Paso sind es zehn Stunden auf der Interstate 25, die mitten durch New Mexico führt. Da ich seit zwei Uhr auf den Beinen bin, trinke ich einen starken Kaffee und übernehme die erste Schicht. Merlin sitzt auf der Rückbank und streckt seine Nase durch den Spalt im Fenster, doch nach einer Weile rollt er sich auf der Decke zusammen, die ich ihm hingelegt habe, und vergräbt seine Nase im Schwanz.
Jonah legt eine CD ein und isst seinen Bagel mit Frischkäse, den wir bei Starbucks gekauft haben. »Die Frau hat eine eigene Bäckerei, und ich muss einen gekauften Bagel essen.«
»Ich konnte ja nicht wissen …«
»War nur ein Scherz«, sagt er und hebt eine Hand. Der Geruch seines Chai ist exotisch und angenehm süß. Mit einem Mal wird mir bewusst, dass ich ihn doch gar nicht gut genug kenne, um verliebt in ihn zu sein. Im Grunde ist er ein Fremder, dessen Existenz ich bis vor zwei Monaten völlig aus meinem Gedächtnis verdrängt hatte. Es macht mir Angst. Angst, die sich wie eine weitere Ladung auf den riesigen Berg meiner Sorgen häuft. Während der vergangenen beiden Tage haben mich ständige Kopfschmerzen gequält, und dieses stets präsente Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird, ist erheblich stärker geworden.
Wäre ich Katie eine bessere Ersatzmutter gewesen, wenn ich mich nicht mit ihm eingelassen hätte? Hätte ich mitbekommen, wie es um sie steht?
Ich bin heilfroh, dass Jonah nicht viel redet. Die Musik ist fröhlich und unbeschwert, und ich spüre, wie die Angst und die Besorgnis allmählich von mir abfallen und ich meine Umgebung wahrnehme: hohe Berge, ein Himmel so klar und blau, als könnte man ihn berühren, wenn man die Hand danach ausstreckt, und Felder mit hellgrünen Yucca-Palmen und schlanken Kakteensäulen. Jonah zeigt auf eine Herde zarter, langbeiniger Antilopen, die über die Steppe laufen.
Es hat etwas beinahe Meditatives, am Steuer zu sitzen und auf den endlos langen, schnurgeraden Highway hinauszublicken, der sich in der Sonne vor uns erstreckt. Ich spüre, dass ich den Atem aus meinen Lungen entweichen lasse, der sich anfühlt, als hätte ich ihn angehalten, seit ich Katies Nachricht in ihrem Zimmer gefunden habe.
»Schon besser«, bemerkt Jonah neben mir.
»Ich bin immer noch völlig schockiert. Sie hat mir Geld gestohlen. Ist mitten in der Nacht abgehauen. Dabei hat sie sich so gut entwickelt.«
»Sie hatte es nicht einfach im Leben.«
»Das stimmt. Mein Fehler, dass ich es vergessen habe.« Ich denke an gestern Abend, als ich vor ihrem Bett gestanden habe, an all die Dinge, die ich ihr hatte sagen wollen, was ich aber nicht getan habe. »Hätte Sofia so etwas getan, wäre es eine Katastrophe gewesen. Bei Katie dagegen mache ich mir weniger Sorgen. Sie ist ein schlaues Ding, das weiß, wie man sich durchschlägt.«
Er nickt.
»Allerdings habe ich Angst, dass sie sich schlauer
Weitere Kostenlose Bücher