Mit einer Prise Glück und Liebe
noch den 19. oder schon den 20.? Keine Ahnung. Es ist dunkel draußen, aber welche Zeit soll ich nehmen? Die Mitten-über-dem-Atlantik-Zeit?
Alle anderen schlafen, aber wann immer ich einnicke, muss ich an Oscar denken, und mein Herz hämmert so heftig, dass ich fürchte, es springt mir gleich aus der Brust. Wenigstens lebt er, sage ich mir pausenlos, doch dann meldet sich eine andere Stimme zu Wort: noch.
Daran will ich nicht einmal denken. Was er jetzt braucht, ist Kraft, Mut, der feste Glaube an seine Genesung, positive Energie. Er muss mich sehen, meine Zuversicht, er braucht meine Hand, die seine in der Dunkelheit hält. Er braucht etwas, woran er sich festhalten kann – seine Frau, seine Kinder, seine Tochter, die schon groß ist, und das zweite Kind, das wir zusammen erwarten.
Katie. Wann immer ich an sie und ihr Leben in dieser Drogenhölle denke, wird mir speiübel. Ich habe meiner Mutter nicht erzählt, was dort wirklich ablief, aber ich frage mich, wie ein Kind so etwas überhaupt überleben kann – und in gewisser Weise bin ich sogar schuld daran. Ich habe bemerkt, dass mit Lacey etwas nicht stimmt. Dass da mehr war als die posttraumatische Belastungsstörung, die bereits diagnostiziert worden war. Der Krieg hat ihr schwer zugesetzt, das ist mir klar, aber das schien nicht alles gewesen zu sein. Doch wie soll die zweite Frau etwas über ihre Vorgängerin sagen und erwarten, dass jemand auf sie hört? Ich wusste nicht, wie ich es anstellen soll, aber mir sind so einige Dinge an ihr aufgefallen: der Schmutz unter ihren Fingernägeln. Ihr merkwürdiger Mundgeruch. Die Tatsache, dass sie viel zu mager war, aber was hätte ich denn sagen sollen? Ich hatte noch nie das Problem, dass ich zu wenig auf den Rippen habe. Oscar liebt das. Zumindest behauptet er es, und ich glaube, er meint es auch so. Ihm gefallen meine Kurven.
Dann wurde sie wegen Besitzes von Crystal Meth verhaftet, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Selbst damals schon wusste ich, dass Meth-Abhängige ihre Sucht nie wirklich in den Griff kriegen. Niemals. Eine Freundin von mir arbeitet in der Notaufnahme des Pentrose-Krankenhauses. Meth schließt irgendetwas im Gehirn kurz, sagt sie.
Die arme Katie. Sie tut mir so leid.
Mist. Wir sind schon seit fünf Stunden in der Luft und haben noch vier weitere vor uns. Meine Mutter hat mir meine Lieblingssandwiches gemacht – Sauerteigbrot mit Gurke und Hummus. Es ist so tröstlich, ihr selbst gebackenes Brot zu essen. Ich habe einen ganzen Laib in der Tasche, was die Security-Leute ziemlich komisch fanden, aber als Hochschwangere neun Stunden in einem Flugzeug sitzen zu müssen ist nicht gerade ein Sonntagsspaziergang. Meine Beine sind geschwollen, und ich glaube, den Kerl neben mir nervt es, dass ich die ganze Zeit mit dem Fuß wippe, aber ich kann nicht anders. Mein Rücken schmerzt vom Sitzen, und ich stehe jede Stunde auf und gehe eine Weile auf dem Gang hin und her, damit meine Knöchel nicht gar so dick anschwellen. Außerdem muss ich so oft aufs Klo, dass es schon peinlich ist. Vorhin legte mir eine alte Frau die Hand auf den Arm. Sie fühlte sich wie kühle Seide an. »Wie kommen Sie mit diesem langen Flug zurecht, kleine Mama? Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte sie. Mir schossen sofort die Tränen in die Augen.
O Gott, wie soll ich das nur überstehen?
VIER
Ramona
U m halb elf Uhr vormittags soll Katie ankommen. Mit Backen kann ich mich nicht ablenken, weil meine Kunden heute nicht einmal bis zur Eingangstür kommen. Henrys Handwerkertruppe steht um Punkt acht Uhr – zweifellos habe ich dieses Engagement Cat zu verdanken – vor der Tür, und nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass sie ihre Arbeit auch sehr gut ohne meine Anwesenheit erledigen können, gehe ich in die Backstube und setze einen Brotteig an – die einzige Tätigkeit, die mich halbwegs beruhigt.
Um Viertel vor elf bekomme ich eine Nachricht von meinem Bruder Ryan.
Der Adler ist gelandet. Sind in zwanzig Minuten da.
Ich laufe nach oben, ziehe mir eine frische Bluse an und lege einen Hauch Lippenstift auf. Als ich mich vorbeuge, um zu überprüfen, ob nichts verschmiert ist, blicke ich zu meiner Verblüffung in die Augen meiner Großmutter. All die Jahre war ich so sicher gewesen, dass ich meiner Mutter ähnlich sehe, doch in letzter Zeit erkenne ich immer häufiger die Züge meiner Großmutter, wenn ich in den Spiegel blicke.
Ich bin nervös. Es ist lange her, dass ich ein kleines Mädchen bemuttert
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