Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
weiterhin und tue genau das.
»Mann, Lady, warten Sie doch wenigstens, bis ich angehalten habe«, schimpft der Taxifahrer und signalisiert dem vor uns stehenden Fahrer, der gemütlich an sein Gefährt gelehnt dasteht, dass er soeben eine arme Irre kutschiert hat. Augenrollend und kopfschüttelnd geht er zum Kofferraum, um mein Bordcase herauszuholen. Gerade, als er es mir mit soviel Schwung vor die Füße knallt, dass mir Angst und Bange um den darin befindlichen Laptop wird, ertönt wieder die Stimme meines Chefs durch das Telefon. Beinahe sanft klingt sie:
»Dann drehen Sie sich jetzt um und öffnen die Tür wieder.«
»Aber ich …«
»Tun Sie einfach, was ich sage.« Gehorsam wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, ignoriere ich den vor mir stehenden Koffer und öffne stattdessen die Wagentür.
»Nun steigen Sie ein und sagen Sie dem Fahrer, er soll Sie zum Jungfernstieg 26 bringen.«
»Okay«, sage ich ergeben und gebe dem Fahrer, der mich ungläubig beim Einsteigen beobachtet hat, ein stummes Zeichen, dass er mein Bordcase wieder einpacken soll. Verärgert rollt er, als er endlich kapiert hat, dass er die Irre immer noch nicht los ist, mit den Augen, schleudert meinen armen Koffer samt Laptop in das Taxi zurück und steigt ein.
»Sagen Sie es ihm. Sagen Sie Jungfernstieg 26«, fordert Harald Huber an meinem Ohr. Wieso nur behandelt er mich, als könnte ich nicht bis drei zählen?
»Zum Jungfernstieg 26 bitte«, wiederhole ich widerwillig und höre es gleichzeitig in der Leitung klicken. Der Taxifahrer gibt einen undefinierbaren Laut von sich und tritt aufs Gaspedal.
Kapitel 6
Als ich durch die Glastüren des Bürogebäudes trete, fühlen sich meine Schultern an wie Stein. Der Niesel- hat sich mittlerweile in einen ausgewachsenen Platzregen verwandelt, und meine Haare kleben nass und strähnig an meinem Kopf, wie ich in der verspiegelten Aufzugtür feststellen muss. Durch die immer stärker werdenden Rückenschmerzen hat sich mein Körper in eine unattraktive Schonhaltung mit eingezogenem Kopf und eindeutiger Schieflage des Schultergürtels verschoben. Alles in allem fühle ich mich genau so, wie man sich nicht fühlen will, wenn man seinem Chef gegenübertreten muss, der aus unerklärlichen Gründen furchtbar wütend zu sein scheint. Ich zerre mein Bordcase, das durch die ruppige Behandlung tatsächlich eine seiner Rollen eingebüßt hat, hinter mir her aus dem Aufzug und gehe eiligst den langen Flur entlang, vorbei an den offenen Türen der elegant eingerichteten Büroräume, die aufgrund der frühen Stunde ausnahmsweise einmal menschenleer sind. Das ganze Office wirkt wie ausgestorben, das Neonlicht brennt in meinen Augen, und meine Absätze verursachen ein unnatürlich hallendes Geräusch auf dem dunklen Granitfußboden. Klick-klack, klick-klack, klick-klack. Während ich auf die geschlossene schwarze Tür ganz am Ende des Ganges zulaufe, werden meine Schritte schwerer und schwerer. Klick … Klack … Klick … Klack … Noch immer habe ich keine Ahnung, warum mein Chef so wütend auf mich ist. Habe ich nicht seit Jahren bis spät in die Nacht geschuftet?
Habe ich nicht mein Privatleben hintangestellt, bis es sich verabschiedet hat? Habe ich nicht Simon meinem Job geopfert? In diesem Moment hält das Klacken inne. Ich muss mich sammeln. Keine gute Idee, in diesem Augenblick an Simon zu denken. Ich würge den Kloß in meinem Hals hinunter und setze meinen Weg fort. Welche andere Angestellte nimmt ihren Job so ernst wie ich? Ich habe mir den Allerwertesten aufgerissen, ich habe diesen Job zu Ende gebracht, ohne Zeitverzögerung, obwohl meine Welt um mich herum zusammengebrochen ist. Und dieser Huber nennt mich eine Fleischverkäuferin?
HARALD HUBER, PARTNER verkünden die strengen, schnörkellosen Buchstaben auf dem silbernen Türschild. Ich hebe den Arm und klopfe an.
»Herein«, erklingt die Stimme von Frau Sandner. Als ich die Tür aufmache und schüchtern den Kopf hereinstecke, sitzt Herrn Hubers grauhaarige Sekretärin wie immer mit kerzengeradem Rücken und tadellos gekleidet an ihrem Schreibtisch. Ihre wachen grauen Augen mustern mich streng durch die randlose Brille, und ich spüre, wie ich innerlich noch ein Stückchen kleiner werde.
»Guten Morgen«, wünsche ich mit dem Versuch eines Lächelns, das kläglich verrutscht.
»Guten Morgen«, kommt es eisig zurück, und die Endfünfzigerin hebt in der für sie typischen, furchterregenden Weise die linke Augenbraue um einen
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