Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
starkes Beruhigungsmittel gespritzt, und Ihr Kreislauf dürfte davon noch ziemlich im Keller sein.«
Ein Beruhigungsmittel? Aber warum denn nur? Vorsichtig linse ich auf meine Armbanduhr. Gleich halb neun. Nanu? Wo sind die letzten eineinhalb Stunden hin? Vergeblich krame ich in meinem Gedächtnis nach der nächsten Vergangenheit, als Benjamin auf mich zutritt und sich auf ein Knie neben mir niederlässt.
»Um Gottes willen, Vivi, bist du wieder okay?«, fragt er, und der Ausdruck in seinen Augen macht mir wirklich Angst. Er sieht mich an wie eine Geisteskranke, mit einer Mischung aus Mitleid und Alarmbereitschaft.
»Natürlich bin ich okay«, bringe ich mühsam hervor und sehe ratlos zu ihm hoch. »Was ist denn bloß passiert?«, wispere ich ihm zu, damit Herr Huber, der noch immer an der Fensterfront seines Büros steht und über die verregnete Stadt sieht, nicht mitbekommt, dass ich anscheinend einen Filmriss habe.
»Tja, also, du bist irgendwie ausgerastet, würde ich sagen«, druckst Benjamin herum, und ich sehe ihn verständnislos an.
»Was willst du denn damit sagen?«, frage ich, als sich der freundliche Mann von eben wieder zu uns gesellt. Er trägt eine orangefarbene Jacke, nimmt jetzt meine Hand in seine und tätschelt sie:
»Sie hatten einen kleinen Nervenzusammenbruch, Frau Sonntag, aber das wird schon wieder«, erklärt er mir sanft.
»Nervenzusammenbruch«, wiederhole ich schwach.
»Eine Reaktion auf übermäßige psychische Belastung, das kommt in den besten Familien vor«, versucht er einen Scherz und grinst breit auf mich herunter.
»Ich bin so müde«, flüstere ich, und tatsächlich kann ich kaum die Augen offen halten.
»Das ist ganz normal«, beruhigt mich der Mann, auf dessen Namensschild »Anton Binder, Notarzt« steht. »Sie brauchen jetzt vor allem Ruhe, dann sind Sie bald wieder so gut wie neu.«
»Das geht nicht …«, will ich protestieren, aber er fährt schon fort: »Wen können wir anrufen, damit er Sie abholt?« Ratlos sehe ich erst ihn und dann Benjamin an. »Haben Sie einen Mann? Oder Freund?« Ich schüttele den Kopf. »Was ist mit Familie?«
»Die lebt in Baden-Württemberg«, bringe ich mühsam hervor.
»Sie sind ganz allein?«, erkundigt er sich und sieht mich voller Mitgefühl an. Ich nicke.
»Ja, ganz allein«, bestätige ich und bemerke selber, wie furchtbar traurig das klingen muss. Und ich sehe es in den Augen von Doktor Binder und Benjamin. Aber ich selber empfinde nichts darüber, keine Trauer, keinen Schmerz.
»Tja, was machen wir denn mit Ihnen? Dann nehmen wir Sie wohl doch besser erst mal mit«, überlegt er laut und winkt in Richtung Tür, hinter der jetzt zwei Sanitäter mit einer fahrbaren Trage hervorkommen.
»Aber wohin denn?«
»Ins Krankenhaus.«
»Nein, auf keinen Fall«, erkläre ich entschlossen und sehe Benjamin flehentlich an. Auch wenn ich im Moment nichts fühle, so viel Stolz besitze ich noch, dass ich mich aus Wisenberg Consulting nicht mit den Füßen zuerst rausfahren lasse. »Benjamin, das geht nicht. Sag doch was! Wir müssen sofort nach München. Ich werde die notwendigen Prozesse noch mal genau durchgehen, vielleicht können wir das Projekt straffen und damit wenigstens einen Teil des Verlustes ausgleichen«, rede ich auf ihn ein.
»Soll ich Simon anrufen?«, fragt er, und ich sehe ihn verstört an. Wie kommt er denn auf die Idee?
»Nein, du sollst nicht Simon anrufen, hast du mir denn nicht zugehört?« Nun richte ich mich doch endlich auf, anscheinend nimmt man mich ja nicht ernst, wenn ich flach auf dem Rücken liege. Gegen den Schwindel ankämpfend atme ich einmal tief durch und fahre dann fort: »Ich bin sicher, dass wir noch etwa zwanzig Prozent an Arbeitsstunden unserer Consultants einsparen können, wenn wir ihnen nur richtig auf die Füße treten.«
»Vivi, ich bin sicher, Simon würde sich um dich kümmern, wenn er wüsste, wie schlecht es dir geht«, unterbricht er mich mitten im Satz, was mich, wenn ich nicht vollgepumpt mit dieser Superdroge wäre, vermutlich ganz schön wütend machen würde.
»Benjamin, Simon erfährt nichts von diesem Zwischenfall, ist das klar«, sage ich eindringlich, und er zuckt resignierend mit den Schultern.
Mir ist ein bisschen flau im Magen, aber ich werde mich jetzt verdammt noch mal wieder auf meine eigenen Füße stellen und hocherhobenen Hauptes Hubers Büro verlassen. Wenn wir uns sehr beeilen, bekommen wir noch die Neun-Uhr-Zwanzig-Maschine nach München und sitzen vor zwölf
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