Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
am Schreibtisch. Zeit ist Geld! Mit einem Ruck erhebe ich mich.
»Nein, nicht«, höre ich Doktor Binder rufen und sehe einen der Sanitäter auf mich zustürzen. Verwundert sehe ich in sein blasses Gesicht mit dem blonden Schnurrbart über der vollen Oberlippe, der sich mir vom Ende eines langen schwarzen Tunnels entgegenbauscht.
Kapitel 7
Ich rieche den durchdringenden Duft von Desinfektionsmitteln und spüre das poröse Kratzen von zu oft gewaschener Bettwäsche auf meiner Haut. Angestrengt hebe ich ein Augenlid und blicke in ein rundes, gutmütiges Frauengesicht, das von kurzen, braunen Locken umgeben ist.
»Schlafen Sie, Kind, das tut Ihnen gut«, sagt sie mit sanfter Stimme, und schon fallen mir die Augen wieder zu.
Als ich das nächste Mal wach werde, fühle ich mich besser. Ich wälze mich in dem schmalen Bett, das man eigentlich nur als Pritsche bezeichnen kann, herum und muss aufpassen, nicht herauszufallen. Zu meiner Linken befindet sich ein Fenster mit Blick auf einen Krankenhauspark. Der graue Nebel des Morgens hat sich aufgelöst, hell steht die Sonne am klarblauen Himmel. Wie spät mag es sein? Ich entdecke meine Armbanduhr auf dem fahrbaren Tisch neben meinem Bett, auf dem sich auch ein Telefon befindet. Es ist halb vier. Den ganzen Tag habe ich verschlafen. Schemenhaft kommt die Erinnerung an heute Morgen zurück, an das Gespräch mit Herrn Huber. Und plötzlich erscheinen auch bruchstückhafte Bilder meines sogenannten »Nervenzusammenbruchs«. Weinkrampf würde ich es eher nennen. O Gott, ich habe vor meinem Chef und Benjamin geheult wie ein Baby, im Sessel zusammengekauert. Ich schüttele den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben, und sehe mich stattdessen in dem schlichten, weiß getünchten Raum um.
»Na, aufgewacht?«, erklingt eine raue Stimme rechts von mir, und ich wende meinen Kopf zu meiner Bettnachbarin, die sich jetzt auf die Seite rollt, den Kopf in die Hand gestützt und mich neugierig ansieht. Ihre schwarzen, langen Haare umfließen ihr blasses Gesicht mit den eingefallenen Wangen wie ein unheimlicher, dunkler Schleier.
»Äh, ja, hallo«, gebe ich zurück.
»Ich bin Nele«, stellt sie sich vor und winkt mir lässig mit ihrem spindeldürren Ärmchen zu. Man muss kein Arzt sein, um in ihr eine Magersuchtspatientin zu erkennen. Ihr kleiner Körper zeichnet sich kaum unter der weißen Krankenhausdecke ab.
»Ich heiße Vivi«, sage ich und drücke gleichzeitig auf die über mir hin- und herbaumelnde Klingel, um eine Schwester zu rufen. Anscheinend hat man mich tatsächlich in eine Psychiatrische Anstalt eingeliefert, oder was gibt es sonst für eine Erklärung, dass ich mit dieser halben Portion neben mir ein Zimmer teile? Da es mir zu lange dauert, bis endlich jemand erscheint, wende ich mich noch mal Nele zu, deren Blick unentwegt auf mir ruht.
»In welcher Abteilung liegen wir hier?«, erkundige ich mich vorsichtig, und sie verzieht den Mund zu einem Lächeln.
»Psychiatrische«, erklärt sie und fügt beruhigend hinzu, »offene.«
»Das heißt …?«
»Das heißt, dass sie dich nicht hierbehalten, wenn du nicht willst.«
»Aha. Okay.« Na, wenigstens etwas.
»Frau Sonntag, ausgeschlafen?«, erklingt jetzt eine kräftige Stimme aus Richtung Tür, und dann erscheint eine mollige Krankenschwester im Türrahmen.
»Ich möchte bitte jetzt nach Hause«, sage ich und schwinge meine Beine aus dem Bett.
»Natürlich. Sobald der Arzt noch einmal nach Ihnen geschaut hat. Und dann sollten Sie sich zu Hause sofort wieder hinlegen.«
»Na klar, mache ich«, nicke ich zustimmend. Von wegen. Ich habe ein Projekt zu retten. »Wann kommt denn der Arzt?«, erkundige ich mich ungeduldig. Hoffentlich bald, damit ich nicht erst mitten in der Nacht in München ankomme. Meine Geduld wird jedoch auf eine harte Probe gestellt. Es ist schon beinahe acht Uhr, als sich der greise Arzt namens Dr. Lindemann endlich bequemt, in mein Zimmer zu kommen. Und dann hat er sich auch noch in den Kopf gesetzt, mir eine Krankschreibung über sechs Wochen aufzudrängen.
»Glauben Sie allen Ernstes, dass ich einfach sechs Wochen krankfeiern kann?«, frage ich den Arzt. »Ich bin Unternehmensberaterin«, pruste ich, ohne zu wissen, was daran eigentlich so witzig ist, »sechs Wochen ohne mich, und das Projekt bricht zusammen.«
»Ist es Ihnen lieber, wenn Sie selber zusammenbrechen?«, erkundigt sich der Doktor mit unbeweglicher Miene. Ach du liebe Güte, müssen diese Leute denn wirklich immer alles so
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