Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
schrecklich dramatisieren?
»Na schön, dann geben Sie schon her«, sage ich barsch und reiße ihm den Wisch förmlich aus der Hand.
»So ist es recht«, nickt er zufrieden und tätschelt meinen Arm. Stillschweigend verstaue ich den Zettel in meiner Handtasche. Wenn es ihn glücklich macht. Bei mir zu Hause wird das Ding sowieso gleich im Müll verschwinden. Ich bin nicht krank. Vielleicht ein klitzekleines bisschen mit den Nerven runter, das gebe ich ja zu, aber deshalb muss man mich ja nun wirklich nicht gleich zum Invaliden abstempeln. »Und hiervon nehmen Sie dreimal täglich eine, das wird Ihnen helfen, sich zu entspannen.« Neugierig sehe ich auf das kleine, braune Glasfläschchen in seiner Hand.
»Ist das der gleiche Wirkstoff, den ich heute Morgen gespritzt bekommen habe?«, erkundige ich mich, und als er nickt, reiße ich ihm das Zeug förmlich aus der Hand. Prima.
»Ihre Reaktionszeit wird davon jedoch massiv beeinträchtigt, also sind Sie nicht verkehrstüchtig«, bekomme ich noch eine Warnung mit auf den Weg, und dann darf ich mich endlich anziehen und das Krankenhaus verlassen. »Schlafen Sie so viel wie möglich, ruhen Sie sich aus, und vielleicht suchen Sie sich auch einen Therapeuten«, redet die Schwester auf mich ein. Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich sie an.
»Einen Therapeuten? Ja, wozu das denn, um Himmels willen?«
»Ein Nervenzusammenbruch ist immer auf große psychische Belastungen zurückzuführen. Sicher würde es Ihnen guttun, sich einmal all Ihre Sorgen von der Seele zu reden. Das befreit.«
»Aha, hm, na ja«, mache ich unbestimmt. Das fehlt mir gerade noch. Was soll ich denn bitte schön mit einem Seelenklempner?
Kaum bin ich außer Sichtweite des Krankenhauses, wühle ich hektisch mein Telefon aus der Handtasche hervor und schalte es ein. Am liebsten würde ich sofort ein Taxi zum Flughafen nehmen, entscheide mich aber dann doch, zuerst ins Hamburger Büro zu fahren und mich Herrn Huber noch mal zu stellen. Zunächst ist es meine wichtigste Aufgabe, Schadensbegrenzung bei meinem Boss zu betreiben. Das letzte Bild, das er von mir hat, in Tränen aufgelöst und ohnmächtig auf dem Boden seines Büros zusammengebrochen, muss so schnell wie möglich aus seinem Kopf gelöscht werden. An seine Stelle muss die Viviane Sonntag treten, die er seit Jahren kennt und schätzt: Zuverlässig, rational und stets korrekt. Und deshalb verschwinde ich zunächst mit meinem Koffer im Waschraum am Ende des Ganges und mustere mich in der großen Spiegelwand über dem Marmorwaschbecken. Wow, ich sehe echt schlimm aus. Aber nichts, was man nicht mit ein bisschen Make-up und einem Kamm wieder in den Griff bekommen könnte. Ich überschminke sorgfältig die blauen Schatten unter meinen Augen, tusche die Wimpern zweimal und trage kräftig Rouge auf die Wangenknochen auf. Während ich den Kamm durch meine zerzausten Haare zerre, sehe ich mir tief in die Augen und versuche, zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Aus meinem Bordcase ziehe ich eine frische, rosafarbene Bluse und tausche sie gegen den zerknitterten Fetzen, den ich trage. Dieser glasige, leicht hysterische Ausdruck in meinen Augen gefällt mir nicht. Sicher, souverän muss ich auftreten und Herrn Huber davon überzeugen, dass mein Ausbruch vom Morgen ein wirklich einmaliger Ausrutscher gewesen ist. Ich lasse das Bordcase unter dem Waschbecken stehen und schüttele entschlossen zwei längliche Kapseln aus dem Glasfläschchen, das mir der Doktor mitgegeben hat. Einen weiteren emotionalen Ausbruch kann ich mir nicht leisten. Ich spüle die Tabletten mit einem Schluck Wasser herunter und würge kurz, weil sich eine in meiner Kehle querstellt. Panisch hänge ich mich unter den Wasserhahn und trinke in langen Zügen, bis sich das Ding in meinem Hals löst. Röchelnd richte ich mich auf und tupfe dann mit einem Papiertuch aus dem silbernen Spender die Wassertropfen von meinem Gesicht. Ich atme tief durch und spüre bereits die beruhigende Wirkung der Pillen. Mein Körper fühlt sich mit einem Mal schwerer an, die Schultern sinken einige Zentimeter herab, der verkniffene Zug um den Mund löst sich. Plötzlich kommt mir all das nicht mehr so dramatisch vor, fast könnte man sogar darüber schmunzeln. Leichtfüßig trippele ich durch den Gang auf Herrn Hubers Büro zu. Hoffentlich ist die olle Schreckschraube von Sekretärin nicht mehr da, sende ich ein Stoßgebet zum Himmel, bevor ich beherzt an die Tür klopfe.
»Ja«, ertönt etwas
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