Mit geschlossenen Augen
die Geschäfte waren noch offen, die Besitzer warten sehnsüchtig auf Weihnachten. Auf den Gehwegen flanierten Pärchen und Familien und ahnten nichts davon, dass in diesem Auto ein Mädchen mit zwei Männern saß und keine Ahnung hatte, wohin sie es bringen würden.
Beim Überqueren der Via Etnea sah ich den weiß angestrahlten Dom mit den mächtigen Dattelpalmen drum herum. Unter dem LavasteinPfiaster der Straße fließt ein Fluss, still, mit bloßem Ohr nicht zu hören ‒ so still wie die zarten Gedanken, die ich geschickt unter meinem Panzer verberge. Auch sie fließen dahin. Verzehren mich.
Morgens findet hier in der Nähe der Fischmarkt statt; die Hände der Fischer, deren Nägel schwarze Ränder vom Ausnehmen der Fische haben, verströmen den Geruch des Meeres, während sie aus Plastikeimern Wasser auf die kalten, glitzernden Leiber der noch lebenden und zuckenden Tiere spritzen. Wie sich herausstellte, fuhren wir genau dorthin; allerdings war die Atmosphäre bei Nacht eine ganz andere. Jetzt roch es nicht nach Meer, sondern nach Joints und Haschisch, wie ich beim Aussteigen aus dem Auto merkte, und anstelle von alten, braun gebrannten Fischern sah ich junge Leute mit Piercings, aber das Leben geht weiter, immer weiter.
Als ich neben dem Auto stand, huschte eine alte Frau an mir vorbei, sie stank, hatte ein rotes Kleid an und eine magere, ebenfalls rote Katze auf dem Arm, die auf einem Auge blind war. Die Frau sang ein Lied:
Neulich ging ich die Via Etnea entlang, welch ein Rummel, ein Lichtermeer! Vor den Cafes junge Männer in Jeans, Dachten sich wohl: Schaut alle her! Wie schön bist du, Catania, am Abend, wenn der strahlende Mond auf dir ruht, und der Feuer spuckende Ätna
den Verliebten schenkt seine Glut.
Sie ging nicht, sie wandelte ‒ wie ein Gespenst, die Augen verdreht; ich beobachtete sie neugierig, während ich darauf wartete, dass die beiden Jungs ausstiegen. Da streifte die Alte unversehens meinen Jackenärmel, und ich verspürte ein seltsames Kribbeln; unsere Blicke begegneten sich, nur einen winzigen Moment lang, aber der war so intensiv und viel sagend, dass ich Angst bekam, echte, höllische Angst. Die flinken Augen der Alten, ihr schräger Blick, der alles andere als stumpfsinnig war, sagten zu mir: »Dort drin wirst du den Tod finden, Kind. Du wirst dein Herz nicht wiederbekommen, du wirst sterben, und irgendwer wird Erde auf dein Grab schaufeln. Blumen nicht, keine einzige.«
Ich bekam eine Gänsehaut, diese Hexe hatte mich in ihren Bann gezogen. Aber ich hörte nicht auf sie, sondern lächelte die beiden Jungs an, die auf mich zukamen, schön und gefährlich.
Pino konnte sich kaum auf den Beinen halten und schwieg die ganze Zeit über, und Roberto und ich haben auch nicht viel geredet, genau wie die andern Male.
Roberto zog einen dicken Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss auf. Das alte Haustor quietschte in den Angeln, und er musste sich dagegen stemmen, um es zu öffnen; später fiel es krachend hinter uns zu.
Ich sagte nichts und fragte nichts. Was hätte ich auch fragen sollen, ich wusste ja, weshalb wir hier waren. Wir stiegen uralte, ausgetretene Stufen empor, die Mauern des alten Palazzos wirkten so baufällig, dass ich fürchtete, sie könnten einstürzen und uns unter sich begraben; die weiße Treppenhausbeleuchtung und die unzähligen Risse gaben den blassblauen Wänden etwas Durchscheinendes. Wir blieben vor einer Tür stehen, aus der ich Musik dringen hörte.
»Ist da noch wer?«, fragte ich.
»Nein, wir haben beim Weggehen vergessen, das Radio auszumachen«, sagte Roberto.
Pino ist sofort aufs Klo gegangen; da er die Tür offen ließ, konnte ich ihn pinkeln sehen, der Penis in seiner Hand war schlaff und runzelig. Roberto ging in das Zimmer, aus dem
die Musik kam, um das Radio leiser zu drehen, und ich blieb im Korridor stehen und äugte neugierig in alle Zimmer, die ich von hier aus sehen konnte. Der eitle Engel kam lächelnd zurück, küsste mich auf den Mund, deutete auf ein Zimmer und sagte: »Warte in der Zelle der Lust auf uns, wir kommen gleich.«
»Hahaha«, lachte ich, »Zelle der Lust ... cooler Name für ein Zimmer, in dem gebumst wird!«
Ich ging in das Zimmer rein, es war ziemlich eng. Die Wände waren voll mit Bildern von nackten Models, Ausschnitten aus Pornoheften, Porno-Postern und Darstellungen von Kamasutra-Positionen. Und die rote Fahne mit dem Konterfei Che Guevaras an der Decke durfte natürlich auch nicht fehlen.
Mensch, wo bin ich
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