Mit geschlossenen Augen
die Lippen, ich dachte, sie hätte vielleicht das Sperma gerochen.
»Wonach?«, fragte ich scheinbar gelassen, während ich zerstreut die Sonne vor dem Küchenfenster betrachtete.
»Nach Rauch ... was weiß ich, Marihuana oder so was«, sagte sie und verzog angewidert das Gesicht.
Erleichtert drehte ich mich um. »In den Lokalen gestern Abend gab's Leute, die geraucht haben. Das konnte ich ihnen ja schlecht verbieten ...«, erwiderte ich mit einem schwachen Lächeln.
Sie sah mich mit finsterem Blick an und sagte: »Komm du mir einmal angetörnt heim, und du verlässt das Haus nicht mal mehr, um in die Schule zu gehen.«
»Oh, prima«, erwiderte ich in scherzendem Ton, »dann gehe ich jetzt sofort los und suche mir einen Dealer meines Vertrauens. Du hast mir ein Superalibi fürs Schuleschwänzen gegeben, vielen Dank.« Als wäre Haschisch rauchen das einzig Schlimme, was es gibt. Ich würde es kiloweise rauchen, wenn ich dadurch dieses seltsame Gefühl der Leere, des Nichts loswerden könnte. Es ist, als würde ich in der Luft schweben und von oben betrachten, was ich gestern Abend gemacht habe. Nein, das war nicht ich, die sich da von den gierigen Händen Unbekannter befummeln ließ. Das war nicht ich, die da das Sperma von fünf verschiedenen Männern schluckte und ihre Seele verwunden ließ, jene Seele, die bis dahin keinen Schmerz gekannt hatte. Das war eine andere ‒ eine, die sich nicht liebt.
Ich bin die, die sich liebt. Ich bin die, die mit hundert Bürstenstrichen ihrem Haar den Glanz zurückgegeben und die kindliche Weichheit ihrer Lippen wieder entdeckt hat. Die, die sich geküsst und mit sich selbst die Liebe geteilt hat, die ihr gestern Abend verweigert worden ist.
20. Dezember 2001
Zeit der Geschenke und des falschen Lächelns, Zeit der Münzen, die in einer plötzlichen Anwandlung von Mildtätigkeit den am Straßenrand bettelnden Zigeunerinnen mit den Babys auf dem Arm hingeworfen werden. Ich kaufe nicht gerne Geschenke für andere, ich kaufe ausschließlich welche für mich selbst, vielleicht, weil ich niemanden habe, den ich beschenken könnte. Heute Nachmittag bin ich mit Ernesto bummeln gegangen, einem Typen, den ich über einen Internet-Chat kennen gelernt habe. Er ist mir auf Anhieb sympathisch gewesen, wir haben unsere Telefonnummern ausgetauscht und treffen uns seither wie gute alte Freunde ‒ obwohl er nach wie vor ein bisschen unnahbar ist, in Gedanken immer bei der Universität und seinen mysteriösen Bekanntschaften.
Wir gehen oft zusammen shoppen, und es ist mir überhaupt nicht peinlich, ein Geschäft für Damenunterwäsche mit ihm zu betreten, im Gegenteil, oft kauft Ernesto auch welche.
»Für meine neue Freundin«, sagt er immer, aber vorgestellt hat er mir noch keine.
Mit den Verkäuferinnen scheint er auf vertrautem Fuße zu stehen, sie duzen sich und lachen oft miteinander, während ich Bügel hin- und herschiebe und mir Wäsche aussuche, die ich für den tragen werde, dem es gelingt, mich zu lieben. Sorgfältig zusammengelegt bewahre ich die guten Stücke in der obersten Schublade meiner Kommode auf.
In der zweiten Schublade liegt die Unterwäsche, die ich anziehe, wenn ich Roberto und seine Freunde treffe: halterlose Strümpfe, die ihre Nägel zerkratzt haben, und ausgeleierte Spitzenslips, aus denen kleine Baumwollfäden heraushängen, weil ihre gierigen Hände zu grob daran gezerrt haben. Aber ihnen ist das egal, für sie brauche ich nur sauisch zu sein, mehr nicht.
Ursprünglich habe ich immer nur weiße Spitzenunterwäsche gekauft, Ober- und Unterteil genau aufeinander abgestimmt.
»Schwarz würde dir besser stehen«, meinte Ernesto eines Tages, »das passt besser zu deiner Haut- und Gesichtsfarbe.«
Ich habe seinen Rat befolgt und kaufe seither nur noch schwarze Spitze.
Er selbst ist hauptsächlich an bunten Tangas interessiert, die einer brasilianischen Tänzerin würdig wären: grasgrün, pink, stahlblau und höchstens mal rot, wenn es etwas Seriöseres sein soll.
»Also deine Tussis sind ja echt abgefahren«, sage ich zu ihm.
Er lacht und meint: »Lange nicht so wie du.« Und damit ist mein Ego wieder aufpoliert.
Die BHs, die er kauft, sind fast immer gepolstert und passen farblich nie zu den Slips; im Gegenteil, er liebt beißende Kontraste.
Dann die Strümpfe: meine fast immer halterlos, hauchdünn und mit Spitzenrand, außerdem grundsätzlich schwarz weil das zu meiner weißen Winterhaut am besten passt. Ernesto dagegen kauft Netzstrümpfe, für die ich überhaupt
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