Mit Haut und Haaren
eine Weile
mit diesem Typen zusammen. Es wird sich schon alles wieder einrenken. Wir sprechen
uns morgen. Schlaf schön, Roland.«
[403] Sylvie beendet das Gespräch, wirft einen
Blick auf ihren Sohn, doch sie kann nicht mehr einschlafen. Sie nimmt ein Buch und
beginnt zu lesen. Sie hat es von der Patientin bekommen, die ihr jedes Jahr die
selbstgemachte Marmelade schenkt, es ist von Irvine D. Yalom und heißt Momma and the Meaning of Life.
14
Sicherheitshalber schickt Roland Lea doch noch eine SMS : »Kokoseis war köstlich, das leckerste, das ich jemals
gegessen habe. Hoffe, wir sehen uns bald wieder. XXX.«
15
Im Terminal 1 des John-F.-Kennedy-Flughafens nehmen Sylvie
und Jonathan Abschied von Roland. Sie fliegen mit Air
France, sie müssen in Paris umsteigen.
»Du hast mich geschubst«, sagt Jonathan, während sie zum Check-in-Schalter
gehen. »Du bist blöd. Blöder Papa!«
Er schlägt die Hand seines Vaters weg.
»Du kannst nicht gleichzeitig hier herumlaufen und mit deinem Nintendo
spielen, und ich hab dich geschubst, weil [404] du weitergehen sollst. Wir sind auf
einem Flughafen, da muss man sich manchmal beeilen.«
»Du weißt, dass er Abschiednehmen nicht mag«, flüstert
Sylvie Roland zu. »Dann ist er immer so. Reg dich nicht auf.«
»Ich reg mich nicht auf«, antwortet Roland. »Sagen kann er zu mir, was
er will. Aber nicht die ganze Zeit Nintendo spielen. Nimm ihm das Ding weg.« Er
schaut auf die Uhr.
»Hast du es eilig?«, fragt Sylvie.
»Eigentlich nicht.«
»Wollen wir noch einen Kaffee trinken?«
»In Ordnung.«
In einem Starbucks bestellen sie einen Espresso, einen Cappuccino und
einen Orangensaft für den Jungen. Die meisten Tische
sind besetzt, der einzige freie ist dreckig. Mit einer Papierserviette wischt Sylvie
die Tischplatte sauber.
Jonathan spielt immer noch mit seinem Nintendo.
»Wir haben nicht oft darüber gesprochen«,
sagt sie, »aber das heißt nicht, dass ich es vergessen habe.«
»Was denn?«
Rolands Espresso ist bereits alle. Es war nicht viel in dem Becher.
»Die Niederlande. Du wolltest darüber nachdenken. Wo ich jemanden kenne,
der in Leiden was für dich tun kann. Der Mann einer Patientin.«
Er tut das leere Zuckertütchen in seinen Becher.
»Ich muss an meine Karriere denken«, sagt er. Doch es klingt nicht mehr
so selbstsicher wie früher.
»Deine Karriere läuft dir nicht davon.«
[405] »Das sagt du.«
»Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, vielleicht hast du’s noch
nicht kapiert, oder es ist nicht bei dir angekommen, Roland, aber ich weiß nicht
mehr weiter.«
»Was weißt du, Mama?«
Ihr Sohn schaut von seinem Nintendo auf.
»Ach, nichts.«
Roland steht auf. »Ihr müsst jetzt los«, sagt er, »sonst verpasst ihr
noch euer Flugzeug. Ein Semester pro Jahr in den Niederlanden, ich werd drüber nachdenken,
versprochen. Und ich werd öfter anrufen.«
»Du kannst nicht alle für deine Karriere büßen lassen. Das ist unser
Untergang. Aber ich bin froh, dass du wenigstens an deinen Sohn zu denken beginnst.«
Roland hilft Jonathan mit seinem Rucksack.
»Das klingt, als wäre meine wissenschaftliche Karriere
ein Frevel. Als würde ich alle in den Untergang reißen.« Er lacht, doch an seinem
Gesichtsausdruck sieht sie, dass ihre Bemerkung ihn getroffen
hat.
Sie fahren mit der Rolltreppe nach unten zur Sicherheitskontrolle.
»Hast du noch was von Lea gehört?«, fragt sie.
»Nein, sie hat sich nicht mehr gemeldet, sie wird schon wieder anrufen.«
Vor der Sicherheitskontrolle nehmen sie Abschied. Roland will seinen
Sohn hochheben, doch Jonathan reißt sich los.
»Er mag keine Abschiede«, sagt Sylvie. »Das hab ich dir doch schon zigmal
erklärt.«
»Dann küsse ich eben nur dich.«
[406] Er tut es. »Bis bald«, sagt er.
»Tschüs, Jonathan«, ruft er, »ichatten wir
bald mal wieder zusammen?«
Der Junge dreht sich nicht um. Er stapft auf
den Sicherheitsbeamten zu.
»Was ist wichtiger«, fragt Sylvie, Pass und Boardingcard schon in der
Hand, »ein Kind oder deine wissenschaftliche Karriere?«
Roland schweigt. Sein Gesicht verrät keine Regung.
Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen sowie ihre Handtasche und einen großen
Plastikbeutel mit Jonathans Spielzeug auf das Band gelegt hat, dreht sie sich noch
einmal um.
Roland steht immer noch da.
16
»Sollen wir schon mal einen Prosecco trinken?«, fragt Lea.
»Auf Obama?«
»Ein bisschen voreilig, findest du nicht?
Oder verlässt du dich auf die Umfragen? Hast du mir
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