Mit Haut und Haaren
aus, nicht hastig, behutsam. Er scheint Angst zu haben, das
Papier zu zerreißen, er friemelt die Klebestreifen los.
» Ente, Tod und Tulpe – für meinen Sohn?«, fragt
er.
»Es ist für dich«, sagt sie. »Wir haben in Frankfurt schon [413] mal darüber
gesprochen, weißt du noch? Damals hast du gesagt, ein Buch über eine Ente, die sich
mit dem Tod anfreundet, sei nichts für Kinder, aber ich dachte: Vielleicht ist es
was für dich.«
»Vielen Dank«, sagt er. Er beugt sich vor und küsst sie vorsichtig. »Sehr
aufmerksam. War das hier das Buch deiner Tochter?«
»Nein«, sagt sie, »ich hab übers Internet
ein neues bestellt.«
17
Über Neufundland wird Violet wach. Der Murakami liegt auf ihrem
Schoß. Sie muss erst wieder hineinkommen. Eine Weile hatte sie keine Ruhe zum Lesen.
Wenn sie abends nicht einschlafen konnte, sah sie fern übers Internet, auch wenn
es sie oft kaum interessierte.
Neben ihr sitzt ein dicker Mitreisender, der in einem fort Kekse isst.
Sie zwängt sich an ihm und seiner Frau vorbei und geht auf die Toilette.
Sie fragt sich, was sie sagen soll, wenn sie auf dem Flughafen Roland
wiedersieht. Sie hat ein kleines Geschenk für ihn, belgische Pralinen, mit einer
Karte dazu. Auf die Karte hat sie etwas Liebes geschrieben. Soll sie ihm die Pralinen
gleich bei der Ankunft geben oder erst, wenn sie bei
ihm zu Hause sind?
Und wann soll sie ihm alles erzählen – alles, was sie ihm angetan hat?
[414] Auf der Toilette muss sie plötzlich weinen. Es muss an der Müdigkeit
liegen. Sie hat hart gearbeitet in den vergangenen Tagen, um vor der Abreise alles
noch fertigzukriegen.
In ihrem Handgepäck steckt Meneer Bär. Eine Beruhigung.
18
Roland und Lea verlassen das Odeon. Das Buch, das sie ihm geschenkt
hat, hält er in der einen, die Plastiktüte mit dem Ausdruck ihres ersten Kapitels
in der anderen Hand.
Auf der Straße bleibt Lea stehen, wie unschlüssig, wohin sie jetzt gehen
soll.
»In welche Richtung musst du?«, fragt Roland.
Sie schaut ihn verdutzt an. »Soll ich nicht noch kurz mitkommen?«, fragt
sie.
»In meine Wohnung?«
»Ja, in deine kleine möblierte Wohnung. Die mit der Einrichtung, die
schon 1974 nicht mehr modern war.«
Sie kichert.
»Ich muss gleich zum Flughafen. Vielleicht ein andermal.« Sie können
doch auch bloß einmal lunchen, ohne gleich Sex miteinander zu haben? Kann man heutzutage
nicht mehr mit einer Frau zu Mittag essen, ohne sich hinterher dafür ausziehen zu
müssen?
»Willst du nicht mit mir schlafen?«, fragt sie.
[415] Sie trägt denselben Mantel wie damals in Frankfurt, den mit dem Pelzkragen.
»Natürlich möchte ich das, aber ich muss
zum Flughafen.«
»So viele Gelegenheiten haben wir nicht.«
»Da hast du recht«, antwortet Roland, »so viele Gelegenheiten haben wir
nicht.«
»Ich finde es nervig, dass die Initiative
immer von mir ausgehen muss, dass es immer so wirkt, als wolltest du gar nicht.«
Sie schaut ihn streng an.
Er streichelt ihren Pelzkragen. »Ich möchte ja gern, aber ich habe Verpflichtungen. Arbeit, Studenten. Dabei möchte ich nichts lieber,
das musst du mir glauben.«
»Na also. Wenn du gern möchtest, wo ist dann
das Problem?«
»Zeit. Sex kostet Zeit, und die habe ich nicht. Meine Freundin kommt.
Sie sitzt schon im Flugzeug. Vielleicht landet sie schon. Das ist das Problem.«
»Aber wie viel Zeit brauchen wir denn? Sonst lassen wir nächstes Mal
den Lunch einfach weg.«
Roland schaut auf die Uhr. Man kann die Wünsche der Leute nicht einfach
ignorieren, schon gar nicht, wenn man sie in der Vergangenheit schon ein paarmal
erfüllt hat.
»Wir nehmen ein Taxi«, sagt er.
»Mit der U-Bahn sind wir schneller.«
»Ich nehme lieber ein Taxi, so trage ich etwas zur Erholung der Wirtschaft bei.«
Im Taxi schweigt er, wie sie. Doch sie hält seine Hand.
Als sie die 59. Straße queren, sagt sie: »Ich lese gerade noch mal Sophie’s Choice. Es ist interessant, Styron kannte [416] in der
Tat die Memoiren von Höß – oder besser: Levis Vorwort dazu; auch er behauptet, dass
Höß ein Verhältnis mit einer Lagerinsassin hatte. Du kennst nur den Film?«
»Ich komme kaum mehr zum Lesen. In letzter Zeit nicht mal mehr ins Kino.
Meine Forschung frisst alles auf.«
»Hätte ja sein können, dass du früher mehr Literatur gelesen hast. Auf
dem Buch steht außerdem nichts von ›Roman‹. Manchmal liest es sich wie ein Essay.
Aber wie fandest du den Film?«
»Die Puristen nannten ihn damals, glaub ich, eine
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